Vor 125 Jahren, ein Jahr nach den dokumentarischen Sequenzen der Gebrüder Lumière, dreht Alice Guy-Blaché 1896 «La Fée aux Choux». Ihr Film – «Die Fee der Kohlköpfe» – geht der Frage nach: Wie kommen die Kinder in die Welt?
Regisseurin Alice Guy entscheidet sich für ein Märchen, wonach sie aus Kohlköpfen geschnitten werden, was die Runzeln erkläre. Der knapp einminütige Film gilt heute als erster Spielfilm der Geschichte – und ist verschollen.
Wechselvolle Jugend
1873 in der Nähe von Paris geboren, wächst Alice Guy zeitweise bei ihrer Grossmutter in der Schweiz auf, danach bei den Eltern in Chile, dann im Internat wieder in Europa – ein wechselvolles Leben für eine junge Frau am Ende des 19. Jahrhunderts.
Mit 17 steht Alice Guy auf eigenen Füssen, ist Stenotypistin von Léon Gaumont, der damals eine Firma für fotografische Apparate leitet.
Der Beginn des Kinos
Als die Gebrüder Lumière zu ihrem Chef kommen, um ein neues Gerät, einen Kinematographen, vorzustellen, schlägt Alice Guy Gaumont vor, diese Technik für erzählerische Filme zu nutzen.
Catherine Silberschmidt, Filmkritikerin und ausgewiesene Kennerin der Filmhistorie mit Fokus auf der Rolle der Frauen, erklärt: «Die technische Innovation schafft die wirtschaftlichen Voraussetzungen: Gaumont ist interessiert, Filme zu haben, die er bei Probevorstellungen vorführen kann, um die Funktionsweise seines Kinematographen zu demonstrieren.» So fällt Alice Guys Idee bei Gaumont auf fruchtbaren Boden.
1000 Filme
Guy realisiert als Drehbuchautorin, Regisseurin und Produzentin fast 1000 Filme. «Viele davon sind Kurzspielfilme», sagt Silberschmidt. «Forscherinnen, Wissenschaftler und Archive haben inzwischen einige ihrer grossteils verschollenen Filme restauriert.»
Nach der Jahrhundertwende leitet Alice Guy die Produktion bei Gaumont, einem Filmunternehmen, das es noch heute gibt. Zehn Jahre lang ist sie die einzige Frau hinter der Kamera. 25 Jahre dauert ihre Regiekarriere. «Frauen- und Kinderthemen tauchen immer in ihren Filmen wieder auf», sagt Silberschmidt.
Grosse Erfolge
1907 heiratet Alice Guy den Kameramann Herbert Blaché. Sie gehen zusammen nach Amerika an die Ostküste, Hollywood gibt es noch nicht. 1910 gründet Guy in den USA ihre eigene Produktionsfirma «Solax» und feiert anfänglich sagenhafte Erfolge – auch in wirtschaftlicher Hinsicht.
Sie dreht und produziert erfolgreich Abenteuerfilme und Western. Aber am liebsten dreht Alice Guy Komödien. «Sie hat immer ausnehmend gerne mit Komödianten gearbeitet», sagt Catherine Silberschmidt.
Der Niedergang
Dann folgen erste Flops und ihr Mann, in dieser Zeit Geschäftsführer der Filmproduktion, wirtschaftet die Firma zudem noch herunter, verlässt sie und geht nach Hollywood, Alice Guy lässt sich 1922 scheiden.
Sie kehrt weitgehend mittellos 1922 mit den Kindern nach Frankreich zurück, findet keinen Anschluss mehr, auch Gaumont weist sie ab.
Sie schlägt sich mit Schreiben durch – mehr schlecht als recht. 1953 wird sie für ihre Verdienste um den Film in die Ehrenlegion aufgenommen.
Bis zu ihrem Tod kämpft sie, um richtigzustellen, dass Filmhistoriker viele ihrer Filme Männern zugeschrieben haben. Catherine Silberschmidt ist zuversichtlich, dass die Fehler der Vergangenheit korrigiert werden: «Viele Filmhistorikerinnen und -historiker arbeiten daran.»
1968 stirbt Alice Guy, in der Nähe einer ihrer Töchter lebend, in einem Pflegeheim in New Jersey.