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Filmkritik: «Le tout nouveau testament»
Aus Kultur Extras vom 03.12.2015.
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 6 Sekunden.
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Film & Serien Gott lebt in Brüssel – und er trägt Bademantel

Der belgische Regisseur Jaco van Dormael lässt Gott auferstehen. In einem Himmelsreich in Brüssel. Das macht den Film brisanter, als er ursprünglich geplant war. Der Film «Le tout nouveau testament» ist ein Fest des Humors.

Der Allmächtige wohnt in Brüssel. Es regnet, es ist grau. Und ausgerechnet diese Stadt steht momentan unter Generalverdacht, wenn es um Islamisten geht. Mit Letzterem hatte Regisseur Jaco van Dormael nicht gerechnet.

So wirkt das Interview, das wir im Sommer dieses Jahres mit dem Regisseur führten, geradezu banal. Angesichts der Toten in Paris, angesichts der Fahndungen in Molenbeek – dem Brüsseler Quartier, in dem einige der Täter aufwuchsen – ist es zur Veröffentlichung ungeeignet. Der Film selbst hingegen – und das ist bemerkenswert – hat durch die Terroranschläge an Brisanz gewonnen.

Mehrere Menschen und ein Gorilla schauen aus dem Gebüsch hervor.
Legende: Gesucht von Gottes Tochter: Sechs neue Jünger für ein brandneues Testament. Frenetic Films

Toleriert euch, liebt euch!

Zwar setzt van Dormael sich in seinem neusten Werk «Le tout nouveau testament» keineswegs mit den Islamisten, auch nicht mit dem Islam auseinander. Das tun die Terroristen auch nicht. Und damit wären die einzigen Gemeinsamkeiten genannt.

Van Dormael geht es überhaupt nicht um Religion, auch wenn Gott eine tragende Rolle in seinem Film spielt. Vielmehr geht es um die Beschwörung der Menschlichkeit. Der Belgier hat eine Botschaft. Und die lautet: Toleriert Euch, liebt Euch, lebt Euer Leben ohne all die Zwänge, die Euch von aussen auferlegt werden! Und hört auf Eure innere Stimme!

Jesus ist abgehauen

Das klingt nach Gutmenschentum, welches – bedauerlicherweise – unlängst in Verruf geraten ist. Allein deshalb greift van Dormael zum beliebten Mittel der Komik und Überzeichnung.

Noch einmal: Gott (gespielt von Benoît Poelvoorede) lebt in Brüssel. Er fristet ein trauriges Dasein, verbringt seine Tage im Bademantel, versifft, gelangweilt. Bierdosen türmen sich auf der Tastatur seines veralteten Computers. Seine Frau ist permanent am Staubsaugen, sein Sohn Jesus ist vor ewigen Zeiten abgehauen, um Jünger um sich zu scharren.

Ein Mädchen späht durch den Türspalt.
Legende: Gottes Tochter büxt aus, um die Menschheit zu retten. Frenetic Films

Es braucht ein brandneues Testament

Dummerweise ist da noch diese Zehnjährige – Gottes Tochter Ea (fantastisch gespielt von Pili Groyne). Sie hat den Tyrannen satt und beschliesst, sich erstens am gefühlskalten Vater zu rächen und zweitens die Menschheit vor den Geboten des Allmächtigen zu befreien.

Nach kurzer Beratung mit dem zur kaufbaren Miniatur degradierten Bruder steht fest: Es braucht ein brandneues Testament. Geschrieben von sechs neuen Jüngern. Gottes Tochter trifft bald auf Einarmige, Auftragskiller, Synchronsprecher, Gorillas und Jungs in Mädchenkleidern, läuft übers Wasser und lässt tote Fische singen.

Ein Fest des Humors

Das Resultat ist poetisch, kitschig, überzeichnet, sehr lustig, skurril und mit treffsicheren Pointen und einem untrügbaren Gespür für die grossen und die feinen Gesten. Ein Fest des Humors und eines unerschöpflichen Ideenfundus. Bei dieser Party schaut man ausserordentlich gern zu. Denn auch die symmetrischen Bildkompositionen geben diesem menschlichen Epos etwas altarisch Heiliges.

Vielleicht sind Gott und seine Tochter als Hauptrollen in van Dormaels Komödie nur Zufall. Es hätten auch ein Banker und seine rebellierende Brookerin sein können. Doch so bekommt die Botschaft des Films die nötige weitere Dimension. Die Freiheit, die verhandelt wird, ist existenziell. Die Freiheit, Gott und die Religion hinterfragen zu dürfen. Die Freiheit zu lachen. Über sich, über andere und miteinander. Die Freiheit, das Leben individuell zu leben, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und dabei die Mitmenschen nicht zu vergessen.

Toleranz, Liebe, Menschlichkeit, Glück. Klingt das nach Kitsch? Und wenn schon! Es ist die einzige mögliche Antwort in Tagen wie diesen.

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