Vor der Kamera ist hinter der Kamera und umgekehrt. In vielen Dokumentarfilmen verschwindet die Grenze zwischen den Personen, die hinter einem Objektiv einen Film konzipieren, und denjenigen, die vor der Linse etwas verkörpern.
Immer öfter gestalten Menschen gemeinsam offene Projekte um bewegte Bilder, in denen der Akt des Filmens nicht mehr eine Erzählung konstruiert, sondern zum Teil der Erzählung wird: Weil etwas gefilmt wurde, besteht es.
Das klingt abgehoben, aber ein Blick auf das Programm der sechsten Ausgabe des Human Rights Film Festivals HRFF in Zürich zeigt mehrere konkrete Ansätze, wie aus Heimvideo-Material, aus Amateur-Aufnahmen und aus privaten Mitschnitten ganze abendfüllende Filme entstehen können, die Geschichten von einer verblüffenden Tragweite erzählen.
Drogen in Washington D.C.
Picken wir einen Film als Beispiel heraus: «17 Blocks». Die Mitglieder einer afroamerikanischen Familie in Washington D.C. haben sich rund 20 Jahre lang gegenseitig gefilmt, in guten und in schlechten Zeiten.
Auf 100 Minuten gestrafft wird aus diesen Aufnahmen ein gewaltiges Epos, eine Freske aus verwackelten Takes. Und weil man im Publikum im Zeitraffer mit dieser Familie aufwächst, trifft es einen umso mehr, als in der Filmmitte ein harter Schicksalsschlag eintritt.
«17 Blocks» arbeitet vom Personal her mit einer einfachen Grundkonstellation: eine Mutter mit Drogenproblemen, ihre Tochter, ihre zwei Söhne. Der Rahmen ist äusserst intim, aber der Film setzt sich schnell über das Biografische hinweg und schneidet universelle Probleme an: Drogenhandel, Bandenkriminalität, Waffengewalt. Der Film stellt zum Schluss klar: Diese Geschichte ist nur eine unter Tausenden.
Keine grossen Köpfe
Andere Filme am diesjährigen Human Rights Film Festival basieren auf einer ähnlichen Herangehensweise: Man erzählt von gesellschaftlichen Missständen und Herausforderungen, ohne dass man die grossen Köpfe der Weltpolitik und Weltwirtschaft ins Visier nimmt, sondern man erzählt von den Eltern, den Geschwistern, den Kindern, von sich selbst gar – im Vertrauen darauf, dass das Persönliche etwas Politisches widerspiegelt, ohne dass man es explizit hervorstreichen muss.
Mit Kameras statt Granaten
Eine besonders verspielte Variante dieser Herangehensweise bietet der Dokumentarfilm «The Earth is Blue as an Orange»: In einer Kriegszone in einer Stadt in der Ukraine dreht eine aufgeweckte Teenagerin einen Kriegsfilm, einen echten.
Für ihr Projekt arbeitet sie mit allen Mitteln: Sie holt Familienmitglieder vor die Kamera, und wenn in der Nachbarschaft über Nacht wieder ein Haus oder ein Geschäft in Schutt und Asche gelegt wurde, dann macht das für ihren Film eine hervorragende Kulisse her.
«The Earth is Blue as an Orange» erzählt vom Leben trotz des Krieges. Die junge Regisseurin möchte unbedingt an die Filmschule in Kiew. Ob sie dort aufgenommen wird, ist im Film viel wichtiger, als warum sich das Militär und die Rebellen vor der Haustür Gefechte liefern. Der Film überrascht damit, wie deutlich er diese Priorität setzt.
Die Botschaft: Hoffnung
Es gibt noch weitere Filme am diesjährigen HRFF, die diesen Bogen zwischen Familie oder engstem Freundeskreis und der grossen weiten Welt spannen – mehr oder weniger ernst, mehr oder weniger tragisch, jeder auf seine Art und Weise. Aber eines ist all diesen Film gemein: Sie vermitteln uneingeschränkt die Hoffnung auf ein besseres Leben.