Frankreich, ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs: Während die Männer in den Schützengräben kämpfen, rackern und ackern die Frauen auf den Bauernhöfen. Die Familie Sandrail ist ein Musterbeispiel dafür: Hortense (Nathalie Baye) schuftet mit ihrer Tochter Solange (Laura Smet) auf den Feldern. Gleichzeitig vergiessen Constant (Nicolas Giraud) und Georges (Cyril Descours) an der Front Schweiss und Tränen.
Die Hüterinnen des Hofes wissen: Ohne eine zusätzliche Arbeitskraft lässt sich das stattliche Landgut nicht bewirtschaften. Darum wird die junge Francine (Iris Bry) engagiert, die sich als tüchtige Magd erweist. Problematisch wird die Beziehung zwischen den drei Frauen erst mit der schrittweisen Rückkehr der Männer.
Läuft da was zwischen Solange und einem amerikanischen Soldaten? Und hat deren Bruder George während seines Fronturlaubs tatsächlich Francine geschwängert? Hortense beginnt, um den guten Ruf ihrer Familie zu bangen. Um die sittliche Ordnung wiederherzustellen, greift die Matriarchin zu einer gravierenden Lüge.
Das schmutzigste Zitat
Primarschullehrer Constant besucht im Fronturlaub seine Klasse. Die hat eine Überraschung für den französischen Kriegshelden vorbereitet: Ein Gedicht über die Deutschen, die damals nur selten «les Allemands» genannt wurden. Viel populärer war der abfällige Begriff «sales boches» (dreckige Dickschädel).
«Bösartige Schurken, abscheuliche Pläne.
«Bösartige Schurken, abscheuliche Pläne.
Sie töten Frauen, Betagte, sogar Kinder.
Selbst Mörder haben nur Ekel für sie übrig:
Die Boches!»
Der Regisseur
Xavier Beauvois wurde 1967 in Nordfrankreich geboren. Bereits als 20-Jähriger fasste er in der Filmbranche Fuss: als Regieassistent bei André Téchinés Drama «Les innocents» mit Sandrine Bonnaire und Abdellatif Kechiche.
Nach seinen Debüts als Schauspieler und Autor in den späten 80ern schrieb er das Drehbuch für den ersten eigenen Spielfilm. «Nord», das Porträt einer dysfunktionalen Familie, wurde 1991 in Montréal gleich mehrfach ausgezeichnet und bescherte ihm den internationalen Durchbruch. Inzwischen gehören auch zwei Jury-Preise aus Cannes und ein César zu Beauvois’ Palmarès.
Bekannt ist der 53-Jährige vor allem für seine bedächtige, bisweilen fast hypnotisch wirkende Erzählweise. Diese zeichnet auch seine bisher nostalgischste Regiearbeit aus, die 2018 in unseren Kinos lief: «Les gardiennes».
Fakten, die man wissen sollte
Als emotionales Zentrum des Dramas entpuppt sich die rothaarige Magd Francine. Verkörpert wird die junge Frau, die um ihre Identität ringt, hingebungsvoll von Iris Bry. Die heute 24-Jährige stiehlt den anderen Schauspielerinnen in ihrer ersten Kinorolle buchstäblich die Show.
Kein Wunder, hat sie Beauvois gleich für seinen nächsten Film verpflichtet: In «Un petit-fils» übernimmt Bry erneut die weibliche Hauptrolle. Offen bleibt dagegen, ob das geplante Startdatum des Liebesdramas eingehalten werden kann: Herbst 2020.
Das Urteil
«Les gardiennes» ist eine Entdeckung, nicht nur weil hierzulande kaum einer den gleichnamigen Roman von Ernest Pérochon kennt. Noch stärker als das Buch konzentriert sich der Film auf die Emanzipation seiner weiblichen Hauptfiguren. Diese Fokussierung verleiht dem historisch situierten Gefühlsdrama erfreulich viel Aktualität und Relevanz.
Normalerweise ist es ja das heroische Leiden der Männer, das in Geschichten über den Ersten Weltkrieg besungen wird. Hier bilden dagegen die alltäglichen Heldentaten der Frauen den Refrain – mitsamt all ihrer Irrungen und Wirrungen. Nur in wenigen Strophen tauchen Männer überhaupt auf: Als vom Gefechtslärm traumatisierte Besucher einer fremdgewordenen Welt, die einst ihre Heimat gewesen ist.
Trotzdem ist «Les gardiennes» kein Abgesang, sondern ein insgesamt erstaunlich versöhnlich stimmendes Stück. Xavier Beauvois balanciert die Härte des Alltags mit überraschend sehnsuchtsvollen Bildern und Tönen aus. Die Kompositionen des 2019 verstorbenen Ohrwurm-Meisters Michel Legrand verfehlen ihre Wirkung nicht. Und die leuchtstarken Aufnahmen von Kamerafrau Caroline Champetier sorgen sogar im Fernsehen für Gänsehaut.