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Kino vs. Streaming Wozu braucht es Programmkinos in Zeiten von Netflix & Co.?

Nicole Reinhard übernimmt die Leitung des Programmkinos «Filmpodium» der Stadt Zürich. Eine Herausforderung in Zeiten, in denen Streaming-Dienste immer populärer werden.

Netflix und andere Streamingdienste stellen kommunale Kinos und die Filmkulturpflege vor Herausforderungen. Nicole Reinhard leitet neu das Zürcher Programmkino «Filmpodium». Wie lässt sich die Filmgeschichte in die Zukunft retten?

Nicole Reinhard

Neue Leiterin Zürcher Filmpodium

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Nicole Reinharts lange Filmvermittlungskarriere begann in Winterthur beim Frauenkino Xenia und bei der VIPER. Danach leitete sie 16 Jahre lang das Basler Stadtkino. Per 1. Dezember 2020 übernimmt sie die Leitung des Zürcher Filmpodiums.

SRF: Wozu brauche ich ein «Stadtkino» oder ein «Filmpodium»? Wenn ich «Casablanca» sehen will, finde ich den Film auf allen möglichen Streaming-Plattformen.

Nicole Reinhard: Die meisten älteren Filme sind nur theoretisch via Streaming erhältlich. Wenn ich etwas suche, finde ich es ganz bestimmt nicht. Und ich weiss auch nicht, auf welcher der 300 Plattformen ich suchen soll.

Das Klassiker-Angebot, das über Streaming angeboten wird, ist eng. Dadurch findet gerade wieder eine neue Kanonisierung statt. Fast jede Videothek hatte in den 1990er- oder Nullerjahren ein breiteres Spektrum im Angebot, als das, was man online findet.

Klar: Mit Beharrlichkeit kann man in den diversen Internet-Archiven und spezialisierten Plattformen zwar durchaus einiges aufspüren. Aber wer will schon einen ganzen Abend damit verbringen, um dann den gesuchten Film erst gegen Mitternacht endlich sehen zu können?

Filmpodium Zürich

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Das Filmpodium Zürich ist das Programmkino der Stadt Zürich. Es zeigt an die 350 verschiedene Filme jährlich – mehr als alle kommerziellen Kinos zusammen.

Thematische Reihen und Retrospektiven von Klassikern der Filmgeschichte sind ebenso zu sehen wie Premieren eigenwilliger Autorenfilme aus aller Welt; Sonderveranstaltungen mit Live-Musik und Star-Gästen runden das Programm ab.

Das Filmpodium-Kino wurde als «Studio 4» 1949 erbaut und 2003 umfassend renoviert. Es ist eine Kulturinstitution der Stadt Zürich und ein Partnerkino der Cinémathèque suisse.

Also haben das Filmpodium Zürich oder das Stadtkino Basel eine Museumsfunktion?

Es ist Teil unserer Aufgabe, die Filmgeschichte in ihrer ganzen Breite abzubilden oder auf blinde Flecken hinzuweisen. Etwa auf die vergessenen Frauen aus der Pionierzeit des Kinos. Beispielsweise die Schauspielerin Ida Lupino, die sich in Hollywood auch als Regisseurin neben den Männern behauptet hat.

Wie wecken Sie das Interesse für solche Rückblenden?

Spannend wird es, wenn man ans Heute anknüpfen kann. Ich habe letztes Jahr mit dem Filmwissenschaftler Johannes Binotto ein Filmprogramm zusammengestellt, das wir «The United States of Paranoia» nannten.

Das Programm baute auf seiner Vorlesung zu Paranoia-Vorstellungen in den USA auf. Da ging es um die Angst vor den Kommunisten, vor einem Atomschlag im Kalten Krieg, über die Ermordung von Kennedy bis in die Neuzeit.

Menschen sehen bei uns Filme, die im kommerziellen Kino keinen Platz haben.

Als wir dieses Programm im Herbst 2020 zeigten, hat sich das als prophetisch erwiesen. Die ganze Paranoia  konnte man im Zusammenhang mit den US-Präsidentschaftswahlen live miterleben.

Plötzlich hat man gemerkt, dass sich damit schon frühere Generationen auseinandergesetzt haben. Auch dafür ist so ein Kino da. Natürlich ist auch das Live-Moment wichtig, also interessante Gäste, Vorträge und Events.

Haben Sie ein Zielpublikum? Wer nutzt Ihre Angebote?

Ins Stadtkino Basel kommen zum Beispiel Besucher und Besucherinnen, die gerne die Filme wieder sehen möchten, die sie kennen. Das kann auch zum x-ten Mal «Casablanca» sein. Andere entdecken die Filmgeschichte grade neu für sich.

Frau mit Locken (Nicole Reinhard) schaut zu älterer Dame hoch (Agnes Varda)
Legende: Nicole Reinhard bei einer Begegnung mit der französischen Kult-Filmemacherin Agnès Varda. © Stadtkino Basel

Es gibt aber auch die Basler Filmszene, mit der wir einmal pro Monat den Basler Filmtreff organisieren. Dort zeigen wir zum Beispiel Filme von jungen Filmemacherinnen und jungen Filmemachern.

Hier wird das Stadtkino zur Bühne und bietet Vernetzungsmöglichkeit. Und es gibt die jungen und die älteren Menschen, die diese Filme und Diskussionen sehen und hören möchten.

Stadtkino Basel

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Das Stadtkino Basel ist eine Initiative des Vereins Le Bon Film. Im Oktober 2016 feierte der älteste Filmclub der Schweiz seinen 85. Geburtstag. Retrospektiven und Reihen zum aktuellen Filmschaffen werden bis heute auf hohem ästhetischem Niveau und mit internationaler Ausstrahlung präsentiert und die wichtigsten Regisseure ihrer Zeit in die Vorstellungen des Bon Film geholt. Das Kino mit 99 Plätzen ist als «Black Box» konzipiert: Der ganz in Schwarz gehaltene Saal fokussiert auf die Leinwand als Ort des Geschehens.

Wir sind auch für die Schulen, Hochschulen, die Schülerinnen und Studierenden da. Für sie stellen wir Zusammenhänge her, lassen sie in bestimmte Themen eintauchen. Oder sie halten selbst als Spezialistinnen Vorträge.

Schliesslich gibt es Menschen, die gerne jene Filme bei uns sehen möchten, die im kommerziellen Kino keinen Platz haben. Oft, weil sie zu kantig und zu eckig sind, um gewinnbringend zu sein. Auch dafür sind wir da: um neue, spannende, wundervolle Filme zu zeigen.

Das Gespräch führte Michael Sennhauser.

SRF 2 Kultur, Kontext, 16.11.2021, 09:03 Uhr ; 

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