Julian, ein Cembalobauer Mitte 50 aus Kanada, lebt und arbeitet zwölf Jahre in einer Lagerhalle des Güterbahnhofs in Zürich. Dann muss sein Wohnatelier einer Baustelle für das neue Polizei- und Justizzentrum weichen.
Der Kurzdokumentarfilm «Julian» zeigt die letzten Wochen vor dem Auszug. Regisseurin Julia Furer fängt mit der Kamera intime Momente des inneren und äusseren Chaos eines Menschen ein.
SRF: Julians Hilflosigkeit ist sehr erdrückend. Es gibt Momente, in denen man ihm am liebsten unter die Arme greifen oder ihn einfach umarmen will. Hatten Sie beim Drehen ähnliche Gefühle?
Julia Furer: An Filmfestivals wurde ich oft gefragt, warum ich Julian keine Lösung angeboten oder psychologische Hilfe vermittelt hätte. Das scheint für Aussenstehende schwer zu verstehen.
Ich wusste aber, er würde das nicht akzeptieren. Es wäre nicht richtig gewesen, ihm Hilfe aufzudrängen, nur weil wir anders leben als er. Ihm ging es nicht schlecht dabei.
Es wäre also keine Lösung gewesen, ihm einfach ein Zimmer zu verschaffen?
Nein. Es gibt diesen Ausschnitt im Film, in dem Julian sagt: «Am liebsten hätte ich ein Haus mit zwei Wänden und einem Dach.» Das widerspiegelt seinen persönlichen Konflikt.
Julian möchte keine normale Wohnung, da würde er sich eingesperrt fühlen. Und doch braucht er die Sicherheit eines Zuhauses.
Der Auszug zwang ihn, sich mit der Realität auseinander zu setzen. Planen, räumen, zügeln. Er konnte nicht weglaufen wie schon so oft in seinem Leben. Das konfrontierte ihn mit seiner Vergangenheit und brachte viel Schmerz.
Wie haben Sie Julian kennengelernt?
Schon lange vor meinem Filmstudium hielt ich mich oft auf dem alten Güterbahnhof in Zürich auf, um zu fotografieren. Julian fiel mir auf mit seinem Schlüssel um dem Hals, dem alten Fahrrad, immer in Eile. Er war immer allein. Gerade in der Weihnachtszeit tat mir das Leid. Darum hängte ich ihm eine Tüte Weihnachtsgebäck an die Tür.
Von da an trafen wir uns regelmässig und wurden Freunde. Erst fotografierte ich ihn analog, später begann ich zu filmen, ganz ohne Konzept. Ich wusste damals noch nicht, dass dies mein Abschlussfilm würde.
Wie gingen Sie beim Drehen vor?
Julian war einsam, viele Jahre bekam er kaum Besuch. Dann kam ich, verbrachte jede freie Minute bei ihm, hörte ihm zu. Er vertraute mir. Das war die Basis.
In technischer Hinsicht musste ich mich Julian anpassen. Im Studium lehrte man uns, für einen guten Ton die Protagonisten mit Funkmikrofonen zu verkabeln.
Das probierte ich bei Julian aus. Doch er riss sich das Mikrofon vom Leib und sagte, er fühle sich wie im Spital. Das ist halt Julian. Er funktioniert anders, und das musste ich akzeptieren.
In drei Jahren kamen bestimmt Unmengen von Filmmaterial zusammen. Wie wählten Sie die Sequenzen aus?
Ich wollte nicht einfach einen lustigen, wirren Typen porträtieren. Julian ist ein sehr cleverer und gebildeter Mensch, der mir viel beigebracht hat.
Auch handwerklich ist er sehr begabt. Das Cembalobauen hat er sich beispielsweise selbst beigebracht. Die vielen Facetten seiner Person zu zeigen war mir wichtig. Dabei hat mir mein Cutter Amaury Berger sehr geholfen.
Am Schluss des Films blenden Sie beklemmende Abschiedsgrüsse von Julian ein. Was ist aus ihm geworden?
Das Traurige ist, dass wir uns gar nicht mehr persönlich verabschieden konnten. Die Abrissfirma gab mehrmals Aufschub, weil Julian noch nicht bereit war auszuziehen. Doch irgendwann war Schluss, ich durfte nicht mehr drehen – und Julian war verschwunden.
Ich habe lange nach ihm gesucht, ohne Erfolg. Bis irgendwann diese E-Mail aus Kanada kam, mit der Ankündigung des Selbstmords. Doch glücklicherweise machte er es doch nicht wahr.
Er schrieb mir später, er wollte sich das Leben nehmen, doch dann fand er ein verlassenes Taubenküken. Das wertete er als Zeichen: Er musste sich um diese Taube kümmern. Seither lebt er als Obdachloser in Kanada, zusammen mit seiner Taube.
Hat Julian den Film gesehen?
Nachdem ich ihn endlich gefunden hatte, konnte ich ihm den Film zeigen. Seine Reaktion war typisch für Julian. Er meinte: «Das ist eine sehr traurige Geschichte. Aber die Farben sind schön.»
Das Gespräch führte Dascha Lüscher.