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«L’île aux oiseaux» Ein kurzer Film über das Heilen

Eine Genfer Vogelpflegestation wird im stündigen Schweizer Film-Essay «L’île aux oiseaux» zum märchenhaften Volièren-Mikrokosmos – mit religiösem Touch.

Eine Frauenhand steckt in Grossaufnahme eine Himbeere auf den Ast eines Nadelbaums. Geduldig platziert sie zappelnde Maden in den Ritzen eines Baumstrunks. Mit dem Feingefühl einer Gastronomin stellt die Stationsmitarbeiterin das Futter für die Tiere bereit.

Arbeitslose pflegen Vögel

Das Centre Ornithologique de Réadaptation in der Genfer Gemeinde Genthod verfolgt zwei Ziele: Einerseits werden hier kranke und verletzte Vögel gepflegt, andererseits werden Arbeitslose integriert.

Der Film «L’île aux oiseaux» porträtiert die Institution als einen Ort, wo Menschen und Tiere zueinanderfinden, die aus der Bahn geworfen wurden.

Dazugedichtete Protagonisten

Das Regieduo Maya Kosa und Sergio Da Costa reichert dabei das Vorgefundene freizügig mit fiktionalen Elementen an. Zu den in Genthod tatsächlich vorgefundenen Personen gehört etwa Paul, ein langjähriger Mitarbeiter, kurz vor der Pension, der auf dieser Pflegestation «vergessen ging», nachdem er seinen richtigen Job verlor.

Dazugedichtet wurde hingegen Antonin, sein Nachfolger. Der apathisch wirkende junge Mann ist nach einer langen Krankheit hierher vermittelt worden. In vorgelesenen Tagebucheinträgen erzählt er von seiner Furcht, hier ebenfalls vergessen zu gehen. Die Bildeinstellungen dazu sind statisch, poetisch und lang, wie so oft im modernen Arthouse-Kino.

Keine Tierdokumentation

«L’île aux oiseaux» ist ein radikaler Gegenentwurf zum klassischen Tierdoku-Genre. Konkretes über die Vögel, ihre Verletzungen und ihre Leiden erfährt man kaum. Der Ton des Films ist stattdessen philosophischer Natur – es geht um die ausgeweitete Analogie zwischen verletzten Tieren und verletzlichen Menschen.

Die Station wird dabei gezeigt als eine idyllische Oase, als wäre sie völlig von der Welt abgeschnitten, bevölkert von nur fünf Menschen – obwohl dort in Wirklichkeit ein mittelgrosses Team arbeitet.

In einer Szene zeigt Paul seinem Nachfolger Antonin, wie man Ratten am Schwanz hält, und wie man ihnen das Genick bricht – um sie danach den Greifvögeln zu verfüttern, die selbst nicht jagen können.

Ein Mann hält eine Ratte am Schwanz, ein anderer schaut zu.
Legende: Paul erklärt seinem Nachfolger Antonin, wie man Ratten am Schwanz hält, und wie man ihnen das Genick bricht. Xenix Film

Gestellte Szenen

«L’île aux oiseaux» ist eine stille cineastische, fast religiöse Betrachtung. Subtil werden später Handlungselemente eingeflochten: Antonin scheint an einer Pflegerin Gefallen zu finden. Anderswo suggeriert der gleiche Antonin, dass eine Gefahr von aussen die Vögel bedroht. Viel mehr erfährt man nicht.

Diese poetische Unschärfe ist wirksam; das winzige Paralleluniversum aus Volièren überzeugt. Aber leider wirken die Protagonisten darin zu künstlich, weil die Regie bei der Schauspielführung einen Tick zu ehrgeizig war: Forciert tonlos leiern Antonin und Co in gestellten Szenen ihre Dialoge herunter und sagen ausdrucksfrei ihre Sätze auf.

Die Idee dahinter war ein Verfemdungseffekt, abgekupfert vom grossen französischen Regisseur Robert Bresson: Aber leider funktioniert das in diesem Film nicht.

Kultur Aktuell, Radio SRF 2 Kultur, 15.7.2020, 7.20 Uhr

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