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Ladj Lys «Les misérables» «Ich zeige eine Banlieue, die nicht auf Klischees beruht»

Er ist in der Pariser Banlieue zuhause und hält seine Kamera drauf: Der französische Filmemacher Ladj Ly beschäftigt sich seit Jahren mit der Polizeigewalt in den Pariser Vorstädten.

Auch sein Spielfilmdebüt «Les misérables» spielt in diesem ihm vertrauten Milieu und zeigt überforderte Polizisten in einem komplexen Gefüge verschiedener Ethnien.

Der Film geht ins Rennen um den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Ladj Ly über seine schärfste filmische Waffe und Zeit, die es braucht, um ihn zu verstehen.

Ladj Ly

Filmemacher

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Ladj Ly, dessen Familie ursprünglich aus Mali stammt, wurde 1980 geboren und lebt seit seiner Kindheit im Quartier Les Bosquets in Montfermeil. Als Mitglied des französischen Filmkollektivs Kourtragmé war er etwa im Horrorfilm «Sheitan» (2006) als Schauspieler zu sehen. Zuvor hatte er 2005 die damaligen Unruhen in der Pariser Banlieue aus nächster Nähe gefilmt, woraus der Dokumentarfilm «365 jours à Clichy-Montfermeil» entstand.

Anderweitig hat ihm das Filmen von Polizeigewalt bereits Ärger mit der Justiz eingebracht. Zudem sass er 2011 wegen der Beihilfe zu einer Entführung vor Gericht. Seit 2018 betreibt er eine Gratisschule für Filmberufe in Montfermeil. «Les misérables» wurde in Frankreich zum Kassenerfolg und steht auf der Shortlist des Oscars für den besten internationalen Film.

SRF: In «Les misérables» haben Sie persönliche Erfahrungen eingebaut. Könnte man von einer autobiografischen Fantasie sprechen?

Ladj Ly: Ein wenig, ja. Ich bin dort aufgewachsen, ich bin Teil eines Filmkollektivs namens Kourtrajmé und drehe seit über 20 Jahren in der Banlieue: Dokus, Clips, Kurzfilme. Jetzt, mit meinem ersten Spielfilm, greife ich auf diese Erfahrungen zurück.

Fünf Jungs sitzen draussen auf dem Boden.
Legende: In «Les misérable» räumt Ladj Ly dem Leben der jungen Leute in der Banlieue viel Platz ein. Filmcoopi

Eine Schlüsselfigur ist Buzz: Der Junge macht mit seiner Drohne verfängliche Aufnahmen und gerät so ins Zentrum einer Intrige. Steckt in diesem Jungen etwas von Ihnen selbst?

Buzz ist wie das Auge des Quartiers: Er ist ein Geek, ein Einzelgänger, der sich für neue Technologien begeistert.

Ich selbst bin auch jahrelang täglich mit der Kamera durch die Strassen gezogen und habe alles gefilmt, was mir vor die Nase kam. In der Figur ist sicher etwas von mir drin – zumal es mein Sohn ist, der im Film diese Rolle spielt.

In «Les misérables» geht es um die Macht der Bilder. Eine Filmdatei von Buzz wird zum Auslöser von teils gewalttätigen Verwicklungen.

Es gibt ein bekanntes Schwarzweiss-Porträt von mir, das der Fotograf JR vor 15 Jahren geschossen hat. Darauf halte ich meine Kamera wie ein Gewehr im Anschlag in die Linse.

Und es stimmt: Ich habe meine Kamera immer als Waffe verstanden. Die Frage im Film ist aber komplizierter: Sollen diese Bilder nun in den Medien verbreitet werden oder nicht? Was könnten sie auslösen?

Sie zeigen die Banlieue nicht nur als ein Pulverfass, sondern als komplexes Gefüge von Ethnien. Welche Überlegungen stecken dahinter?

Es geht mir um die Beziehungen zwischen den verschiedenen Clans. In diesem Quartier wohnen unterschiedliche Gruppen zusammen. Die müssen miteinander auskommen. Ich sage immer: Es haben alle ihre eigenen Gründe – und das gemeinsame Ziel ist es, dass es nicht ausartet.

Damit das nicht passiert, braucht es Kompromisse. Auch zwischen der Bewohnerschaft und der Polizei. Sonst ist die Gefahr gross, dass es zu Unruhen kommt.

Drei Polizisten in Strassenkleidung.
Legende: Mal überfordert, mal zu geladen: Polizisten in Ladj Lys Banlieue-Film «Les misérables». Filmcoopi

Sie lassen sich viel Zeit für die Schilderung des Milieus. Die eigentliche Handlung setzt relativ spät ein.

Das war in der Tat eine Herausforderung beim Schreiben des Drehbuchs. Normalerweise sagt man: Gleich zu Beginn muss etwas passieren! Aber ich wollte mir wirklich Zeit lassen für diese Schilderungen. Für das Aufzeigen einer Banlieue, die nicht auf Klischees beruht.

Das Publikum von ausserhalb ist nicht unbedingt vertraut mit diesem Alltag. Und den sollte man schon kennen, wenn man meinen Film verstehen will.

Das Gespräch führte Georges Wyrsch.

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