Mit einem grossen (nutzlosen) Versöhnungsfest zwischen den verfeindeten Mafia-Familien von Tommaso Buscetta und den Corleones zu Beginn der 1980er-Jahre setzt Marco Bellocchios Film ein. Die Tanzszenen im grossen Saal erinnern an eine Szene aus Viscontis «Il gattopardo».
Ganz am Ende des Films folgt dann eine Einstellung, die den alten, müden Buscetta zusammengesunken auf einem Stuhl auf dem Dach seines Hauses in den USA zeigt: ein Echo auf Coppolas «The Godfather 3», in dem Don Michael Corleone (Al Pacino) in seinem Garten tot vom Stuhl rutscht.
Grosses Schweigen gebrochen
Marco Bellocchio weiss, dass er der Filmgeschichte nicht ausweichen kann mit seinem Film über die Mafia-Prozesse der 1980er-Jahre, über den Kampf von Giovanni Falcone gegen die Cosa Nostra. Darum wohl diese Verweise.
Darum auch die Entscheidung, im Zentrum des Films jenen «traditore» (Verräter) zu behalten, der als erster die Omertà, das grosse Schweigen, gebrochen hatte.
Clan-Krieg kennt kein Pardon
Pierfrancisco Favino spielt diesen Tommaso «Masino» Buscetta mit massiger Körperlichkeit und souveräner Eleganz. Buscetta, der mit seinem Reichtum aus dem Heroin-Handel Italien verlassen hatte und mit seiner dritten Frau in Brasilien lebte, hatte den Clan-Krieg angeblich nie gebilligt.
Jenen Krieg, den Toto Riina provozierte, als der Zigarettenschmuggel vom lukrativeren Drogenhandel abgelöst wurde, und die Corleones nicht mehr davor zurückschreckten, Frauen und gar Kinder der gegnerischen Familie umzubringen.
Richter erklärt Mafia den Krieg
Die Konstellation des Films ist angemessen komplex. Antagonisten sind zunächst die Clans. Dann aber kommt die Staatsgewalt dazu.
In Brasilien wird Buscetta verhaftet und gefoltert. In einer besonders erschreckenden Szene sitzt er halb nackt in einem Militärhelikopter, während seine Frau unter einem parallel fliegenden Helikopter hängt, festgehalten nur an den Armen.
Mit der Auslieferung Buscettas an Italien kommt dann Giovanni Falcone ins Spiel, jener unerschrockene und durchsetzungsstarke Richter, welcher der Mafia den Krieg erklärt hatte. Ihm gelingt es, Buscetta zu seinem Kronzeugen zu machen.
Der grosse Prozess ist ein Kernstück dieses Films, mit Buscetta im Zentrum und all seinen aufgebrachten Gegenspielern in «Affenkäfigen» an der hinteren Wand des Gerichtssaals, während der mafiafreundliche Teil des Volkes seine Verwünschungen brüllt.
Zwei Stunden und 25 Minuten dauert Bellocchios Film, um etwa zehn Jahre abzudecken. Mit der Ermordung Falcones am 23. Mai 1992 ist das alles noch nicht ausgestanden.
Echo aus jüngerer Zeit
Vieles ist sorgfältig rekonstruiert nach Originalfotos oder Filmaufnahmen. Andere Szenen bekommen ein überraschendes Genre-Echo aus jüngerer Zeit.
Am stärksten vielleicht jene Bilder Masinos, der unter Zeugenschutz in den USA lebt, beim Einkaufen in einem Supermarkt. Nach diversen Grosspackungen aus den Gestellen lässt er sich an der Waffentheke noch ein halbautomatisches Gewehr einpacken. Eine Sequenz, welche direkt aus der norwegischen Netflix-Serie «Lilyhammer» stammen könnte.
Raffiniertes Ende
«Il traditore» passt bestens zwischen die Tradition der semifiktionalen Mafia-Filme und den neuen italienischen Vergangenheits- und Gegenwartsaufarbeitungen. Dass Marco Bellocchio mit einer weiteren kurzen Traum- oder Erinnerungssequenz am Ende dafür sorgt, dass man unwillkürlich die moralische Position Buscettas noch einmal überdenken muss, ist ziemlich raffiniert.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 10.2.2020, 7.20 Uhr