Der Schock sitzt immer noch tief. Dabei sind schon über sieben Jahre vergangen seit den Anschlägen von Oslo und Utøya. Die schreckliche Bilanz von damals: 77 Tote und Dutzende Schwerverletzte. Der Täter: Anders Behring Breivik, ein militanter Rechtsradikaler, der bis heute keine Reue zeigt.
Was der Norweger am 22. Juli 2011 auf der kleinen Insel Utøya anrichtete, lässt sich kaum in Worte fassen. 72 Minuten lang jagte er mit seinem Gewehr die 560 Teilnehmer eines Feriencamps. Erst nach 182 Körpertreffern ergab sich der Massenmörder den viel zu spät eintreffenden Sicherheitskräften.
Der Schrecken als Echtzeit-Erfahrung
Macht es Sinn, so ein Gemetzel zu verfilmen? Und wenn ja, wie soll man es erzählen? Der Norweger Erik Poppe wählte für «Utøya 22. Juli» einen radikal subjektiven Fokus. Er heftete sich mit der Kamera direkt an die Fersen seiner Heldin. Mit der daraus entstehenden Nähe will er die Situation der Opfer unmittelbar erfahrbar machen.
Der Film folgt dabei strengen Prämissen: Der Name des Täters fällt nie. Breiviks Gestalt und seine Motive bleiben im Dunkeln. Präsent ist er nur akustisch, durch sein nervenaufreibendes Dauerfeuer.
Die anderen Figuren des Films basieren nicht auf realen Individuen. Sie sind vielmehr das fiktive Ergebnis eines Verdichtungsprozesses – nach Gesprächen mit 40 Betroffenen. Ausserdem werden die Geschehnisse in einer einzigen Einstellung geschildert. Und die dauert genauso lang wie das Massaker: qualvolle 72 Minuten.
Gleich zwei Filme zum Thema
Der englische Regisseur Paul Greengrass geht mit «22 July» einen ganz anderen Weg. Die Netflix-Produktion, die derzeit in Venedig um den Goldenen Löwen kämpft, fusst auf einem Sachbuch. Die Journalistin Åsne Seierstad hatte 2013 mit «Einer von uns» primär eine psychologische Täterstudie abgeliefert.
Der Film folgt dieser Spur: Er zeigt Breivik als fanatischen Rassisten ohne Mitgefühl und Reue. Dessen Anschläge von Oslo und Utøya handelt Greengrass in 30 Minuten ab. Den Briten interessiert vor allem, was danach geschah.
Wie sich die Regierung, die Überlebenden und deren leidgeprüften Familien wieder aufrafften. Sprich: Wie die norwegische Zivilgesellschaft mit dem Monster Breivik umging, ohne ihre Werte zu verraten.
Ein Duell auf Augenhöhe
Welchen Film sollte man sich also ansehen? Die kurze Antwort lautet: beide. Ganz einfach, weil sich die zwei starken Produktionen inhaltlich mehr ergänzen als überlappen.
Erik Poppes «Utøya 22. Juli» trägt zwar nur wenig zum Verständnis des Attentats bei. Dafür entwickelt das authentische One-Shot-Movie einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.
Exakt so müssen die Jugendlichen das Grauen auf der Insel erlebt haben. Bloss etwas irritiert: Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form erinnert bisweilen an einen Teenie-Schocker. Poppes Drama bedient sich in seinen Gänsehaut-Momenten überraschend oft der visuellen Grammatik des Horrorfilms.
Vorteil Netflix
«22 July» ist dagegen in erster Linie ein klug konstruiertes Gerichtsdrama. Klug deshalb, weil es nicht das allgemein bekannte Urteil ins Zentrum stellt. Die Spannung entsteht vielmehr durch das Ringen um Haltung und Aufmerksamkeit.
Breivik verrät seinem Anwalt schon früh im Film, worum es ihm im Prozess geht: Für ihn stellt die geplante Brandrede vor Gericht sein drittes Attentat dar. Eines, das seine rassistische Ideologie via internationale Medien in die ganze Welt tragen soll.
Subtile Subversion
Nur einer kann verhindern, dass Anders Breivik den Kampf um Aufmerksamkeit gewinnt: Viljar Hanssen, ein schwer verletzter Utøya-Überlebender.
Der smarte Teenager hält sich lange für zu schwach, um Breivik Paroli zu bieten. Bis es ihm dämmert, wie sich der Überlegenheitsdünkel des Terroristen untergraben lässt.
Viljars beherzter Auftritt setzt im gesellschaftspolitisch relevanten Netflix-Film ein klares Zeichen: Norwegens liberale Werte haben den 22. Juli heil überstanden.
Kinostart von «Utøya 22. Juli»: 13.9.2018
Startdatum von «22 July» auf Netflix: 19.10.2018