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Ein junger Mann mit gelber Regenjacke steht auf einer breiten Strasse, im Hintergrund ein Wald.
Legende: Oft feucht, nie fröhlich: «Dark» spielt in der deutschen Provinz – den Regenmantel zieht man besser nicht aus. netflix

Netflix-Serie «Dark» Das Dunkle in der deutschen Provinz

Regisseur Baran bo Odar ist in Olten geboren, in Bayern aufgewachsen und hat schon in Hollywood gedreht. Jetzt verantwortet er die erste deutsche Netflix-Serie. «Dark» bietet Düsteres für den Dezember.

Steht in den Verträgen ein Verbot für Sonnenschein? In der ersten deutschen Serie, die der US-Streaming-Dienst Netflix lanciert, bestimmt der Titel jedes Bild: «Dark». Dunkel ist das Licht, entsättigt sind die Farben, es regnet meistens.

Eine gespenstische Atmosphäre herrscht in der fiktiven Kleinstadt Winden, im Wald und in der Höhle, die zum Atomkraftwerk führt. Ein Jugendlicher ist verschwunden, ein Erwachsener bringt sich gleich am Anfang um. Mehr Leichen folgen und viele tote Vögel. Es herrscht Endzeitstimmung.

Das grosse dunkle Gefühl

Der in der Schweiz geborene Regisseur Baran bo Odar, der mit Jantje Friese auch das Drehbuch geschrieben hat, sucht das ganz grosse dunkle Gefühl. Doch hinter den einfachen Schockmomenten, die pünktlich wie ein Wecker nach jeweils 30 Minuten den einzelnen Folgen nochmal einen Dreh verpassen, leuchten komplexe Zeitspuren und Sinnfährten auf.

Retro – aber richtig?

Die Geschichte spielt im November 2019 und 33 Jahre davor, als das Unheil seinen Anfang nahm und ein Junge verschwand. «Alles wiederholt sich», sagt ein alter Mann. Und tatsächlich spielt die Zeit verrückt. Auch 2019 wird ein toter Junge im Wald gefunden. Allerdings: Er trägt Achtzigerklamotten.

Blendet die Serie ins Jahr 1986, hören alle Popradio. Hier schiesst der Retrowille zuweilen lustig übers Ziel hinaus: Damals hat niemand über 35 Synthiepop gehört – ein Polizist kurz vor der Pensionierung erst recht nicht.

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Legende: Immer wieder leuchten komplexe Zeitspuren und Sinnfährten auf – und manchmal auch nur Autoscheinwerfer. netflix

Anti-Atom und Kleinstadt-Horror

Doch die Zeitsprünge verleihen dem Plot ein schönes Schillern. Die Serie verwirrt das Publikum in aller Ruhe. Sind es alte Familiengeschichten, die ihr Unwesen treiben? Oder liegt es doch an einem Geheimnis im Atomkraftwerk, das die Kleinstadt ernährt, aber nächstes Jahr stillgelegt werden soll?

Mal sieht es aus, als sei «Dark» die Serie zum Atomausstieg. Mal legt die Geschichte den Kleinstadt-Horror nahe, der aus einem psychologischen Geflecht zwischen vier Familien hervorkriecht. Oft ist es beides zugleich.

Netflix setzt nicht auf Experimente

Der 1978 in Olten geborene Baran bo Odar hat bereits im Spielfilm «Das letzte Schweigen» (2010) einen Zeitsprung nach 1986 eingebaut. Dass er das Thriller-Genre beherrscht, hat der in Bayern aufgewachsene Regisseur 2014 mit dem deutschen Hackerfilm «Who am I – Kein System ist sicher» bewiesen. Anfang 2017 kam seine erste Hollywood-Produktion in die Kinos: «Sleepless» mit Jamie Foxx in der Hauptrolle.

Ein Mann blättert in einem Archiv in einem Buch
Legende: Keine grosse Namen, aber gutes Niveau: Regisseur Boran bo Odar weiss, wie man Schauspieler führt. Netflix

Netflix verpflichtet also eine relative junge, aber keine Nachwuchskraft. Der deutsche Markt ist zu gross für Experimente. Dennoch: Von «Dark» wünscht man sich manchmal mehr von jenem Eigensinn, der im schroffen Soundtrack von Ben Frost durchaus aufscheint.

Deutsche Serien auf dem Vormarsch

2017 ist das Jahr der deutschen Serienoffensive: Amazon hat im Frühling trotz Matthias Schweighöfer mit «You Are Wanted» nicht richtig reüssiert. Der private Sender TNT hat einen Sechsteiler aus dem arabisch-deutschen Paralleluniversum Berlin-Neukölln produziert («4 Blocks»), dessen Dialoge auf der Strasse imitiert werden wie die Paten-Filme in der Mafiaszene.

Mit der ganz grossen Kelle wurde Tom Tykwers «Babylon Berlin» angerichtet, erstmals in Zusammenarbeit zwischen Privaten und der ARD. Deutschland ist spät eingestiegen in das Rennen anspruchsvoller TV-Serien, aber dafür richtig.

Tolle Schauspieler, aber keine Stars

«Dark» vereint manches, was andere Serien auch versuchen: etwa das «period piece», das Stück aus einer andern Zeit, das hier mit der Welt von Jugendlichen von heute kollidiert. So trifft eine hippe Retro-Ästhetik auf Science-Fiction, pendelt zwischen Verschwörung und Familie und erinnert somit auch ein bisschen an «Stranger Things», eine weitere Erfolgsproduktion von Netflix.

Ein Mann mit einem grossen Rucksack und ein Junge im gelben Regenmantel sitzen auf einer Bank.
Legende: «Dark» – wie ein Stück aus einer andern Zeit, das mit der Welt von Jugendlichen von heute kollidiert. Netflix

Der grosse Unterschied zu den aktuellen deutschen Serien ist allerdings: Endlich eine Serie, die nicht in Berlin spielt. «Dark» sucht das Unheimliche in der Provinz.

Boran bo Odar hat gelernt, mit den tollen Schauspielern, die das Stadttheater ausspuckt, so gut umzugehen wie mit den jungen Darstellern. Keine Stars, aber durchweg Topniveau.

Serienstart

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Zehn einstündige Episoden: Die deutsche Mysteryserie «Dark» startet am 1. Dezember auf Netflix. Regie führte der in der Schweiz geborene Baran bo Odar.

Erzählweisen aus dem Kino

Eine richtig gute Serie wäre «Dark» erst, wenn man den Schauspielern öfter so schön zuschauen könnte wie in einer zweiminütigen Szene in der ersten Folge. Diese kommt ganz ohne Schnitt aus: Das wuselige Frühstück und das Gekeife einer Familie, kurz bevor sie auseinanderfällt, wird zu einem tänzerischen Reigen.

Ein weiterer Glanzpunkt: Am Ende der dritten Folge vermitteln nur der Schnitt und die Musik, wo die Serie gerade steckt – ganz ohne Dialog.

In solchen Momenten zeigt auch «Dark», dass zeitgenössische Fernsehserien dichte Erzählweisen entwickeln können, die wir von woanders her kennen. Aus dem Kino. Oder vom Roman.

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