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Netflix-Serie «Squid Game» Warum wir diese unerträglich brutale Serie ertragen wollen

Die südkoreanische Serie «Squid Game» schlägt seit ihrem Start Mitte September alle Zuschauerrekorde bei Netflix. 111 Millionen Menschen haben die Serie schon gesehen, deutlich mehr als den bisherigen Rekordhalter «Bridgerton». Was fasziniert das Publikum an der gnadenlosen Sozialsatire?

Worum geht’s in «Squid Game»? Eine geheimnisvolle Firma rekrutiert in koreanischen Städten verarmte, verschuldete und verzweifelte Menschen. Sie werden betäubt und wachen mit Nummern auf ihrer Kleidung in einer riesigen Halle auf.

Einmal dort angekommen, müssen sie in Kinderspielen gegeneinander antreten. Etwa in dem Spiel, bei dem alle auf den Spieler an der Wand zulaufen, bis dieser sich umdreht. Wer sich dann noch bewegt, hat verloren – und wird direkt erschossen. Es gibt also bereits in der ersten Runde in der ersten Staffel Hunderte von Toten.

«Squid Game» ist raffinierter als die Filmreihe «Hunger Games». Bei den «Hunger Games» handelt es sich um perfide Gladiatorenspiele in einer Diktatur. Die Geschichte stammt ursprünglich aus Japan.

«Squid Game» aus Korea ist etwas raffinierter. Die Spielerinnen und Spieler sind theoretisch freiwillig dabei. Den armen Leuten wird viel Geld versprochen. Nach jeder Runde landet für jeden Toten wieder neues Geld im Jackpot. Der Gewinner am Ende bekommt die ganzen Millionen. Nach jeder Runde könnten die Spieler eigentlich, wenn sie sich gegenseitig absprechen würden, als Mehrheit das Spiel abbrechen.

«Squid Game» fasziniert durch Zynismus und Sozialkritik, kombiniert mit intelligenter Machart. Letztlich ist es eine einfache Formel: Gladiatorenspiel ohne Grenzen plus Sozialkritik-Komponente. Das Ganze ist unerträglich brutal, gleichzeitig unendlich faszinierend.

Die Figurenzeichnung ist ebenfalls gut gemacht. Man lernt die Spielerinnen und Spieler und ihre Allianzen gut kennen. Auch als Unterhaltungsformat ist es intelligent gemacht: Es spricht die primitiven Instinkte an und legitimiert sie zugleich. So funktioniert auch jeder «Tatort».

«Squid Game» reiht sich ein in die sozialkritische Filmtradition Südkoreas. Schon einer der berühmtesten koreanischen Filme von 1960, «Das Hausmädchen» von Kim Ki-young, spielt mit dem Gegensatz eines reichen Haushaltes und der armen Hausangestellten, die sich rächt.

Der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho, der mit seinem Oscar-gekrönten Film «Parasite» von 2019 bekannt wurde, hat auch den Film «Host» gedreht. Darin geht es um ein Monster, das über eine Stadt herfällt – auch das ist eine Sozialsatire. Ins gleiche Genre fällt Bong Joon-hos «Snowpiercer»: In einem Zug leben die Reichen in einem vorderen Teil, die Armen arbeiten hinten.

Jugendpsychologe: «Kinder sollten sich diese Serie nicht ansehen»

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Der Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl
Legende: Der Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl Keystone

Der Hype um «Squid Game» hat offenbar auch die Schulen erreicht. Laut Medienberichten soll die Serie Jugendlichen als Vorbild für ähnliche «Spiele» dienen – mit blutigen Auseinandersetzungen auf dem Pausenhof. «Der Verlierer oder die Verliererin des Spiels wurden auf dem Pausenplatz verprügelt», berichtet eine belgische Schule auf Facebook. Auch in Grossbritannien warnen Schulen in Elternbriefen vor dem schädlichen Einfluss der Serie.

Keine Serie für Kinderaugen

Ist die Netflix-Produktion, die vom US-Streamingdienst selbst erst ab 16 Jahren empfohlen wird, für Kinder überhaupt zumutbar? «Mein Rat ist, dass sich Kinder die Serie nicht ansehen sollten», sagt der Schweizer Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl. «Es handelt sich nach meinem Eindruck um eine unappetitliche Serie, die nur durch Grausamkeit beeindruckt und kein gutes Narrativ ist.» Dies sollten Eltern ihren Kindern auch so mitteilen und einen offenen Dialog suchen.

Die Gefahr, dass diese Grausamkeit unmittelbar in die Realität übersetzt wird, relativiert er aber: «Kinder können schon sehr früh zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. Sie haben eine Art Schutzmechanismus: Wenn sie etwas sehen, das zu grässlich ist, schauen sie weg und ignorieren es.»

Gewalt hat oft andere Gründe als TV-Serien

Nichtsdestotrotz: Gewalt an Schulen sei eine Realität. Dass fiktive Geschichten in Filmen oder Büchern am Anfang dieser Gewalt stehen, hat der Psychologe selbst aber noch nicht beobachten können. «Natürlich gibt es solche Fälle. Meist handelt es sich aber um bereits problematisierte Kinder und Jugendliche.»

Guggenbühl plädiert dafür, Gewaltexzesse genauer zu betrachten, die medial in Verbindung mit der Netflix-Serie gebracht würden. «Welche Schule ist es, wo ist etwas geschehen, was genau ist passiert? Bei genauerem Hinsehen merkt man zum Teil, dass es andere Gründe für die Gewalt gibt.»

Auch Kinder seien in ihrem Verhalten von Moralvorstellungen geprägt und hätten eine Hemmschwelle. «Das hängt aber vor allem von der unmittelbaren Umgebung ab – den Gruppen und Bezugspersonen, mit denen sie sich identifizieren.»

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 12.10.2021, 17:20 Uhr ; 

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