Dass man von der Wirklichkeit eingeholt wird, kann vorkommen. Beim brasilianischen Spielfilm «The Pink Cloud» ist das so. Die junge Filmemacherin Iuli Gerbase hat sich vor einigen Jahren ein Lockdown-Kammerspiel ausgedacht. Jetzt erscheint ihr Film – dessen Plot inmitten einer Pandemie plötzlich gar nicht mehr so absurd erscheint.
Bei jeder Szene von «The Pink Cloud» lässt sich prüfen, was tatsächlich eingetroffen ist. Welche Ideen in der Story heute noch reine Fiktion sind (durch luftdichte Röhren gelieferte Lebensmittel etwa), und was man am eigenen Leib erfahren hat. Videotelefonie beispielsweise - als brüchige Verbindung zur Aussenwelt.
Die Apokalypse als Kammerspiel
Auf diese Aspekte lässt sich der Film jedoch nicht reduzieren. Geplant hat die Filmemacherin diese Aktualitätsbezüge nicht. Vielmehr sollten wir den Film als das betrachten, was er von Anfang an sein sollte: ein soziales Gedankenexperiment. Eine Sondierung, was Freiheitsentzug mit unserer Psyche, unseren Gefühlen und unserer Sexualität macht.
Auftritt Giovana und Yago: zwei attraktive Mittdreissiger, beruflich erfolgreich, kinderlos. Eine Zufallsbekanntschaft. Sie haben sich am Abend zuvor in der Normalität kennengelernt. Sie schliefen auf gut Glück miteinander. Jetzt erholen sie sich in einer Hängematte auf dem Balkon. Ihre Körper kennen sich, ihre Seelen noch nicht. Da werden sie von einer Stimme durchs Megafon geweckt: «Sofort ins Hausinnere - sofort alle Fenster und Türen zu!»
Ein Abendrot aus leuchtendem Kaugummi
Mit dieser Ausgangslage schafft «The Pink Cloud» eine Art Beziehungslabor: Eine Frau, ein Mann, ein geschlossener Raum. Eine zwangsspontane Beziehung in der Quarantäne, abstrakt ausgeleuchtet durch ein glühendes Magenta, das giftig durch die Fenster in die Wohnung dringt und nahelegt, die ganze Menschheit sei in einer Bubblegum-Blase gefangen.
Die Quarantäne dauert an. Giovana und Yago richten sich längerfristig ein. Sie werden zu einer Art Adam und Eva im Hochhaus-Appartement. Damit es nicht langweilig wird, schaffen sie sich nachts eine virtuelle Disco-Atmosphäre zwischen Küche und Bad. Mit Perücken und Brillen spielen sie Rollenspiele, damit sie sich nicht verleiden.
Die Sache ist ernst
«The Pink Cloud» geizt nicht mit trockener Situationskomik und streckenweise mit Zynismus. Aber das Anliegen des Films bleibt ernst. Es streift im Wesentlichen das, was sich viele seit dem letzten Jahr gefragt haben: Wie halten wir es überhaupt aus miteinander, wenn das soziale Umfeld wegfällt?
«The Pink Cloud» ist ein schonungsloser Film im besten Sinne: Mit seinem archetypischen Dispositiv legt er im engsten Raum frei, was uns aneinander wurmt. Trotzdem ist er viel mehr als die miesepetrige Betrachtung eines Paars am Anschlag: «The Pink Cloud» handelt in aller Konsequenz von Sehnsüchten und von unerfülltem Glück.
Dabei denkt der Film auch explizit über die Bedeutung von Geschlechterrollen nach. Spätestens hier, könnte man sagen, endet die Metapher - und die Realität beginnt.