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Neu im Kino «A Polar Year»: Arktische Abenteuer zwischen Fiktion und Realität

Regisseur Samuel Collardey hält das Leben der Inuit mit dokumentarischer Präzision fest. Eine Doku ist es dennoch nicht.

«A Polar Year» zeigt das erste Jahr des dänischen Lehrers Anders Hvidegaard in Grönland. Um was zu erleben, geht Anders in das kleine Dorf Tiniteqilaaq. Dort unterrichtet er eine Schulklasse.

Tiniteqilaaq steht zwischen Moderne und Tradition. Bei den gut 100 Einwohnern der abgelegenen Siedlung ist der Däne nicht beliebt. Auch mit den Schülern hat es Anders alles andere als leicht.

Auf dem Bild ist der kleine Junge Asser mit seinem Grossvater beim Eislochfischen zu sehen.
Legende: Vieles, was wir sehen, ist wirklich passiert. Oder sind es sogar dokumentarische Aufnahmen? Frenetic Films

Zwischen Dokumentar- und Spielfilm

Der Film ist eine Mischung aus dokumentarischen Aufnahmen und Inszenierungen des Regisseurs. Das Skript wurde aus realen Biografien verschiedener Personen zusammengesetzt. Es ist eine Geschichte, wie sie hätte passieren können.

Anders’ Erlebnisse im Film bestehen zum Beispiel aus den Geschichten mehrerer dänischer Lehrer, die in Grönland unterrichtet hatten.

So ganz entspricht das allerdings auch nicht der Realität: Der Regisseur schlug vor, dass der Grossvater des kleinen Jungen Asser im Film stirbt, damit dieser eine engere Beziehung zu seinem Lehrer Anders aufbaut. Assers echtem Grossvater war das ganz recht, da er sowieso nicht gerne vor der Kamera steht.

Filmkritik

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Der Film hat wunderschöne Aufnahmen zu bieten: von Tieren und der schneebedeckten Landschaft Grönlands.

Die Protagonisten sind keine Schauspieler. Anders spielt sich selbst. Er ist ein sympathischer, stiller Typ. Es gibt nur wenige Momente im Film, in denen sein Schauspiel, wenn man dieses Wort für seine Performance vor der Kamera überhaupt gebrauchen will, nicht ganz überzeugt. Über diese Momente lässt sich jedoch leicht hinwegsehen. Denn die Geschichte ist schlicht grossartig. Obwohl nicht furchtbar viel geschieht, entwickelt der Film seine ganz eigene Dynamik.

Am Ende erfährt man, was Anders heute macht. Das macht einen kurz stutzig. Hat man etwa gerade eine Doku gesehen? Die Idee des Regisseurs bestand darin, eine Geschichte zu finden, die mit der Realität in Berührung kommt. Und die den dokumentarischen Bildern zugleich den Charme der Fiktion verleiht. Das ist ihm definitiv gelungen.

Grönland als Kolonie Dänemarks

Grönland war von 1921 bis 1979 eine Kolonie Dänemarks. Heute ist Grönland ein autonomer Bestandteil Dänemarks mit eigenem Parlament und eigener Regierung. Die Grönländer haben somit die gleichen Rechte und Pflichten wie die Bürger Dänemarks. Lediglich Aussen- und Verteidigungspolitik sind in dänischer Verantwortung.

Anders erklärt seinem Schüler Asser etwas.
Legende: Wegen der Besitznahme ihres Landes durch die Dänen fällt es den Grönländern nicht leicht, Anders zu akzeptieren. Frenetic Films

Kalaallisut, die Sprache der Inuit, wurde erst 2009 zur Landessprache. Die dänische Königin Margrethe bleibt jedoch offiziell das Staatsoberhaupt Grönlands.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Grönland formell bereits entkolonialisiert und wirtschaftlich geöffnet. Diese Öffnung katapultierte die traditionelle Jägergesellschaft schlagartig ins Industriezeitalter. Einerseits schuf dies bessere Ausbildungsmöglichkeiten. Andererseits führte der Verlust der Traditionen auch zu einer nationalen Identitätskrise.

Grönlands Wut auf Dänemark

Der dänische Lehrer erklärt seinen grönländischen Schülern etwas.
Legende: Die Grönländer sind skeptisch gegenüber den Lehrern, die Dänemark nach Grönland schickt. Frenetic Films

Im Film spürt man die starke Missgunst der Grönländer gegenüber den Dänen. Der Regisseur meinte, er sei schockiert gewesen, als er das erste Mal in Grönland war. Die Insel fühle sich immer noch wie eine dänische Kolonie an. Alle wichtigen Posten seien von Dänen besetzt. Die Inuit seien nur als Arbeitskräfte da.

Auch im Film schauen einige Dänen auf die Grönländer hinab. So meint zum Beispiel Anders' Jobvermittlerin zu Beginn des Films, Anders solle gar nicht erst versuchen, die Sprache der Inuit zu lernen.

Es gibt viele Vorurteile, sowohl von der dänischen als auch der grönländischen Seite. Anders bemerkt, wie die Kinder das Mittagessen in der Schule verschlingen. Er fragt nach, ob die Kinder zu Hause genug zu essen bekommen. Die grönländische Reaktion auf seine Besorgnis: «Das ist so eine dänische Frage.»

Regisseur Samuel Collardey

Auf dem Bild ist der Regisseur Samuel Collardey auf dem roten Teppich beim Venedig Filmfestival 2015 zu sehen.
Legende: Collardey sammelte bereits vor «A Polar Year» Erfahrungen mit dem Genre «Dokufiktion». Getty Images, Ian Gavan

Erst arbeitete der Franzose Samuel Collardey fürs Fernsehen. Dann wurde er bei «La Fémis» angenommen. Das ist die grösste und bedeutendste Filmhochschule Frankreichs.

Während seiner Ausbildung war er als Kameramann für verschiedene Kurzfilme tätig. Collardey räumte 2005 mit seinem Abschlussfilm «Du soleil en hiver» Preise auf diversen Filmfestivals ab.

Für «A Polar Year» reiste er über ein Jahr lang immer wieder nach Tiniteqilaaq. Auf diesen Erlebnissen beruht der Film.

Kinostart: 13.12.2018

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