Was kommt dabei heraus, wenn eine Musikethnologin und eine Heilpädagogin mit der Unterstützung eines Alpenfilmers eine Studie übers Jodeln drehen?
Die Kurzantwort lautet: ein überraschend stimmiger Film mit vielen Gänsehaut-Momenten. Wieso das so ist, lässt sich nicht ganz so schnell erörtern – genau so wenig wie die Grundfrage dieser klangstarken Doku.
Co-Regisseurin Lea Hagmann stellt sich diese als Akademikerin im Interview gleich selbst: «Was ist eigentlich Tradition? Aus meiner langjährigen Forschungstätigkeit kann ich sagen: Diese Frage kann man nicht mit einem Satz beantworten.»
Völkerverbindende Vielfalt
Der Film nimmt sich 100 Minuten Zeit, um die Grenzen diverser Musiktraditionen auszuloten. Beginnend mit dem erstaunlich breiten Klanghorizont des Schweizer Naturjodlers Meinrad Koch, zieht die Doku immer weitere Kreise.
So begleiten wir den innovationsfreudigen Appenzeller zum Beispiel beim Besuch einer Geistesverwandten in Norwegen. Von der 28-jährigen Saami Marja Mortensson lernen wir: Im hohen Norden wird nicht gejodelt, sondern gejoikt.
«Das ist eine Vokaltradition, und die hat mit dem Jodeln eigentlich gar nicht so viel zu tun», erklärt Musikethnologin Lea Hagmann, «auch wenn sie ähnlich klingt». Ihre Regiepartnerin Rahel von Gunten ergänzt: «Joiken ist mehr als nur eine Gesangsform der Saamen. Da steckt ein ganzes philosophisches Konzept dahinter.»
Wenn einem die Worte ausgehen
Ein Joik ist alles andere als ein Joke. Wer joikt, macht sich nicht über jemanden lustig. Im Gegenteil: Wer joikt, identifiziert sich voll mit seinem Gegenüber. Regisseurin Rahel von Gunten beschreibt die Absicht der Joikenden so: «Sie sagen, dass sie nicht über Menschen singen, sondern, dass sie die Menschen selbst in ihrer Identität, in ihrem ganzen Wesen verkörpern wollen, klanglich.»
Das klingt nicht nur spirituell, das ist es auch. Am besten bringt es Sängerin Marja Mortensson auf den Punkt: «Wo die Worte enden, beginnt der Joik.» Doch dieser ist alles andere als unveränderlich: Er wandelt sich wie alles im Laufe der Zeit. Darum sei es durchaus legitim, das Spektrum dessen, wie ein Joik zu tönen hat, zu erweitern.
Dass Tradition und Innovation keine unvereinbaren Gegensätze sein müssen, beweist im Film auch ein georgischer Jugendchor. Dieser beschallt den Kaukasus mit Polyphonie, die mehr Gänsehaut erzeugt als jedes Horrorspektakel.
Spagat zwischen Tradition und Innovation
Obwohl die Doku oft zwischen Georgien, Norwegen und der Schweiz hin- und herspringt, ist «Beyond Traditon» erfreulich rund geworden. Nicht einmal fast konträre Vorstellungen davon, wie das Ergebnis aussehen soll, hatten letztlich einen negativen Effekt.
Filmerin Lea Hagmann spricht von einem «Spagat», den sie und Produzent Thomas Rickenmann, der sich mit konservativen Alpenfilmen einen Namen gemacht hatte, gemeinsam meistern mussten: «Thomas hat am Anfang befürchtet, dass sein Stammpublikum nicht verstehen würde, was ich wollte. Es brauchte viel Balance.»
Dass ein Gleichgewicht gefunden wurde, sei primär das Verdienst von Co-Regisseurin Rahel von Gunten, die als Dritte im Bunde gut vermitteln konnte: «Sie hat verstanden, was ich mit meinen kritischen Aussagen, aber auch, was Thomas Rickenmann mit seinen traditionellen Bildern will. Und sie hat beides sehr schön in der Montage miteinander verbunden.»
Kinostart: 12.10.2023