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Neu im Kino Das Grauen des Krieges in neuen Farben

Peter Jacksons Dokumentarfilm «They Shall Not Grow Old» zeigt den Ersten Weltkrieg in Farbe. Das ist verstörend – und wirft Fragen auf.

Zu Beginn ist alles so, wie wir es von unzähligen anderen Dokus gewohnt sind. Der Erste Weltkrieg bahnt sich an. In Schwarz-Weiss-Aufnahmen, die signalisieren: Was wir hier sehen, spielt sich in einer fernen Vergangenheit ab. In einer Zeit, in der Ton und Farbe noch nicht auf Zelluloid gebannt wurden.

Doch nach knapp 25 Minuten ziehen die Soldaten an die Front. Und auf einmal ist alles anders. Nicht nur für sie. Sondern auch für uns Zuschauer. Genau in diesem Moment bringt Regisseur Peter Jackson nämlich Farbe ins Spiel.

Der Mann, der Mittelerde auf die Leinwand wuchtete, überwältigt uns erneut mit magischen Bildern. Sein plötzlicher Wechsel von schwarz-weiss zu bunt erinnert an «The Wizard of Oz».

Gruppenbild britischer Soldaten während des Ersten Weltkriegs.
Legende: Diese Soldaten rechneten kaum damit, dass man sie 100 Jahre später in Farbe bestaunen würde. Warner Bros.

Doch der Effekt könnte kaum gegensätzlicher sein. Anders als beim Technicolor-Klassiker erscheint das Geschehen dadurch nicht zauberhafter, sondern realer.

Zumal sich die Erd- und Grüntöne kaum von den Farben unterscheiden, die heute dominieren. Wir beginnen zu ahnen: Die Kluft zu unserer Welt ist wohl kleiner, als wir uns das vorgestellt haben.

Verblasste Kriegserinnerungen in neuem Licht

Die Kolorierung funktioniert als Zeitmaschine, welche die emotionale Distanz zum den historischen Aufnahmen verringert. Aus dem gleichförmig-grauen Soldatenheer wird in Nu ein bunter Haufen von Individuen. Es ist fast so, als ob wir erst jetzt erkennen würden: Das sind ja Menschen aus Fleisch und Blut.

Der Effekt ist phantastisch, doch er wirft auch Fragen auf: Verletzt dieses Vorgehen, das die Grenzen der Restauration weit überschreitet, nicht fundamentale dokumentarische Regeln?

Regisseur Peter Jackson verteidigt das visuelle Hochrüsten des Archivmaterials so: «Ich habe lediglich versucht, die alten Aufnahmen der menschlichen Wahrnehmung anzugleichen. Damit sie keine Schwarz-Weiss-Klischees bleiben. Schliesslich haben die Soldaten den Krieg nicht schwarz-weiss erlebt. Sondern in lebendigen Farben.»

Lachende Soldaten am Mittagstisch während des Ersten Weltkriegs.
Legende: Farbe verändert nicht nur die Optik, sondern auch die Art und Weise, wie wir Krieg betrachten. Warner Bros.

Im Kern sagt Jackson also: Die neuen technologischen Möglichkeiten sollen voll ausgereizt werden. Damit die Welt von gestern für das Publikum von heute erfahrbar wird. So authentisch wie möglich.

Dazu gehört freilich nicht nur die richtige Farbe. Sondern auch das richtige Tempo und der richtige Sound. Zwei Dinge, die Jackson und seine Mitarbeiter stärker beschäftigten, als ihnen lieb war.

Natürlich wirkende Bewegungen und Geräusche

Die Qualität der 100 Stunden Archivmaterial, die Jackson als Bildquelle zur Verfügung standen, variierte stark. Das lag einerseits am Zahn der Zeit, der die Filmrollen unterschiedlich stark angegriffen hatte.

Andererseits aber auch an den Kameraleuten, die je nach Erregungszustand den Film schneller oder langsamer kurbelten. Das Spektrum reichte damals von 10 bis 16 Bildern pro Sekunde.

Ein natürlicher Fluss entsteht allerdings erst bei 24 Bildern. Für «They Shall Not Grow Old» wurden die fehlenden Bilder darum im Computer generiert. Entscheidend war bei jeder Aufnahme aber schliesslich das menschliche Auge, was die Produktion entschleunigte. Ein riesiger Aufwand, der hier betrieben wurde, um den holprigen Stummfilmzeit-Charakter loszuwerden.

Soldaten auf dem Dach eines fahrenden Panzers während des Ersten Weltkriegs.
Legende: Mit dem Panzer gemeinsam über Stock und Stein: Britische Soldaten im Kriegseinsatz. Warner Bros.

Noch mehr Energie und Herzblut floss in die Vertonung. Sämtliche Geräusche – ratternde Panzer genauso wie stampfende oder diskutierende Soldaten – wurden sorgfältig rekonstruiert.

Für die Äusserungen der Soldaten («Jetzt sind wir Filmstars!») wurden gar professionelle Lippenleser engagiert. Über die Soundkulisse legte Jackson zudem eine Erzählspur, die Kriegsveteranen zu Wort kommen lässt. Dafür wurden über 600 Stunden Interview-Material zu einem roten Faden verwoben.

Musizierende Soldaten, die an einem Strang ziehen

Das Ergebnis ist ein kinematographischer Meilenstein; ein Monolith, der fasziniert, verblüfft und irritiert. Im Zentrum steht nämlich nicht der Schrecken der Schützengräben, welcher den Ersten Weltkrieg prägte.

Stattdessen sehen wir das, was als Propagandamaterial zur Hebung der Moral gefilmt wurde: Soldaten, die – fast wie Pfadfinder – gemeinsam flachsen, musizieren und Sport treiben. Das passt zur englischen Erinnerungskultur, die den Great War bisweilen auch heute noch glorifiziert.

Seilziehen während des Ersten Weltkriegs.
Legende: Eine Hau-Ruck-Aktion? Tauziehen zur Hebung der Moral während des Ersten Weltkriegs. Warner Bros.

Der Filmtitel «They Shall Not Grow Old» wurde einem patriotischen britischen Gedicht entnommen. Die berühmte Textpassage aus «For the Fallen» ist auch auf vielen Kriegsdenkmälern zu finden.

Passenderweise hat Peter Jackson die Doku seinem Opa gewidmet, der 1940 im Einsatz starb. Gleichzeitig nimmt Jackson mit dem Titel auf die vielen, blutjung gefallen Soldaten Bezug. Die im Abspann genannten Kriegsopfer waren alle gerade einmal 15 oder 16 Jahre alt.

Musizierende Soldaten während des Ersten Weltkriegs.
Legende: Spielen sie das Lied vom Tod? Musizierende Soldaten während des Ersten Weltkriegs. Warner Bros.

Jacksons Ziel bestand aber nicht darin, neue Informationen zu präsentieren. Vielmehr wollte er das, was wir wissen, um die unerhörte Dimension der Vertrautheit bereichern. Der langsame Stimmungswandel unter den Soldaten, den die Überlebenden auf der Erzählspur dokumentieren, berührt.

Hier bietet der Film Erfahrungen aus erster Hand; etwas das kein Schulbuch vermitteln kann. Und lebendiger als eine Geschichtsstunde im Klassenzimmer ist «They Shall Not Grow Old» allemal.

Kinostart: 27.6.2019

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