Über zwanzig Minuten verstreichen, bevor die vier Buchstaben des Titels auftauchen. Wäre «Rojo» ein Kurzfilm, könnte er da enden und wäre perfekt.
«Nichts passiert»
Gesehen hat man Folgendes: Zwei Männer sind in einem vollbesetzten, verrauchten Restaurant aneinandergeraten. Ein einflussreicher Anwalt und ein anonymer Choleriker in einer hypnotisch langsamen Eskalation.
«No pasa nada», «nichts passiert» beschwichtigt das Servierpersonal, nachdem der brüllende Randalierer gewaltsam aus dem Lokal entfernt wurde.
Man ersetzt das zerschlagene Geschirr in Windeseile, und der Anwalt kann jetzt endlich sein Essen bestellen. Aber die Nacht wird noch lang sein, und der Titel wurde noch nicht eingeblendet.
Weisse Weste mit schwarzen Flecken
«Rojo» geht unter die Haut. Mit wirkungsvollen Verfremdungseffekten und erdrückender Gemächlichkeit erzeugt der Autor und Regisseur Benjamín Naishtat eine Atmosphäre der Paranoia. Diese kennt man aus US-Independent-Filmen der Siebziger. Der Argentinier orientiert sich hier an den ganz Grossen: Peckinpah, Boorman, Coppola.
Die Haupthandlung von «Rojo» ist derweil überschaubar: Der Anwalt aus der Eröffnungsszene muss zusehen, wie seine weisse Weste zunehmend schwarze Flecken bekommt.
Er gibt seinen Namen für einen zynischen Immobilienschwindel her, der ihm nachhaltig schaden könnte. Und irgendwann steht ein chilenischer Privatdetektiv im Raum, der ihm eine vorsätzliche Tötung ankreidet.
Vor seiner Zeit
Das wichtigste Element des Films «Rojo» ist jedoch die Angabe von Ort und Zeit. Der Film spielt 1975 in der argentinischen Provinz. Zu einer Zeit, in welcher eine Todesschwadron unliebsame Menschen verschwinden liess. Und die Übernahme einer blutigen Militärdiktatur kündigt sich überdeutlich an. Eine Zeit, zu der Naishtat noch nicht geboren war.
Das Setting ist ein zentrales Element von «Rojo». Es geht im Film auf mehreren Ebenen um Formen des Entführens und Verschwindenlassens. Die Anwaltstochter etwa spielt in einem Tanztheater mit, in dem ein Menschenraub dargestellt wird.
Und ein Bühnen-Zauberkünstler löst später eine Dame aus dem Publikum in Luft auf, die er zuvor mit einem bösartigen Gag auf die Bühne gebeten hat: «Kommen sie zu mir hoch, oder muss ich ein Kommando schicken?»
Gefühlte Ewigkeit
Nicht alles in «Rojo» passt zusammen. Einzelne Elemente sind überdeutlich symbolbeladen. Mehrere Szenen im Mittelteil sind zu lang. Die trockenen Pointen sitzen meistens, aber nicht immer. Viele Elemente erschliessen sich nicht vollständig, wenn man mit dem Kontext der Epoche nicht vertraut ist.
Aber das alles wird locker aufgewogen durch die cineastische Wucht, mit der Naishtat seine Ideen vom Stapel lässt. Unterschwellige Aggression fängt er ein wie ein Meister. Und sein Hauptdarsteller, Darío Grandinetti, gibt die unsympathische Hauptfigur enorm nuancenreich: Sein grandioses Spiel legitimiert es vollumfänglich, dass einzelne Szenen gefühlte Ewigkeiten dauern.
Kinostart: 4.7.2019