Afghanistan, 1998: Fast das ganze Land ist von den Taliban besetzt. Die Hauptstadt Kabul liegt in Trümmern. Klar, dass auch das Liebesleben der Bevölkerung darunter leidet.
Frauen müssen sich in der Öffentlichkeit nun komplett verhüllen. Und wer sich dem Terror der selbsternannten Gotteskrieger widersetzt, wird gesteinigt.
Schon früh werden wir Zeuge einer solchen Steinigung. Gott sei Dank sehen wir diese bloss in abstrahierter Form, als Trickfilm-Szene. Die Animation schafft hier die nötige Distanz, um über das Grauen zu reflektieren.
Das schmerzhafteste Zitat
«Ich bin ein Scheusal! Ich warf einen Stein nach ihr! Ich weiss nicht warum. Es ist einfach passiert. Mein Arm tat es einfach. Und ich sah dieser Barbarei von aussen zu. Kannst du mir je verzeihen?»
Mohsen, ein liberaler Lehrer, beichtet seiner Liebsten, Künstlerin Zunaira, von seiner dunkelsten Stunde: Das Betrachten einer Steinigung hatte schlagartig den Barbaren in ihm geweckt.
Vom Gruppendruck überwältigt, warf Mohsen einen Stein auf die Verurteilte. Damit wurde er für Sekundenbruchteile selbst Teil des Systems, das er zutiefst verachtet.
Die Regisseurinnen
«Les hirondelles de Kaboul» ist eine dezidiert weibliche Bestseller-Verfilmung: Im Zentrum steht Zunaira, die wegen eines unglücklichen Missgeschicks hingerichtet werden soll. Als Roman wurde diese 2002 publizierte Geschichte allein in Frankreich über 600'000 Mal verkauft.
Für die Leinwand-Adaption spannten zwei Frauen zusammen. Die inzwischen 60-jährige Zabou Breitman und die 26 Jahre jüngere Éléa Gobbé-Mévellec.
Breitman machte sich zunächst als Schauspielerin einen Namen, bevor sie 2001 erstmals Regie führte. Sehr erfolgreich: Ihr Liebesdrama «Se souvenir de belles choses» gewann gleich drei Césars. Der Name Gobbé-Mévellec dürfte dagegen nur Insidern bekannt sein. «Les hirondelles de Kaboul» ist der erste Spielfilm der Newcomerin, die einst Animation studierte.
Fakten, die man wissen sollte
Der von RTS koproduzierte Trickfilm hat bereits eine erfolgreiche Festival-Karriere hinter sich: Er lief im Mai in Cannes und gewann im November in Thessaloniki einen Publikumspreis.
«Les hirondelles de Kaboul» ist allerdings nicht der erste Animationsfilm, der die Taliban skizziert. Der von Angelina Jolie produzierte «The Breadwinner» erhielt 2018 gar eine Oscarnominierung.
Diese 10-Millionen-Dollar-Produktion erzählt von einem afghanischen Mädchen, das in Superhelden-Manier seine Familie rettet. «Les hirondelles de Kaboul» fusst ebenfalls auf einer fiktiven Story, allerdings auf einer glaubwürdigeren.
Das Urteil
Wie lebt es sich als freiheitsliebender Mensch unter den Taliban? Zabou Breitman und Éléa Gobbé-Mévellec vermitteln mit ihrem Film einen wahrhaftigen Eindruck aus weiblicher Perspektive. «Les hirondelles de Kaboul» skizziert aber nicht nur die schwierige Situation der afghanischen Frauen. Auch für die innere Zerrissenheit vieler Männer findet das Regieduo treffende Bilder.
Die Ausgewogenheit des Films ist das Ergebnis einer aufwändigen Produktion: Breitman inszenierte den Stoff zunächst mit Schauspielern. Das gedrehte Material diente Gobbé-Mévellec als Grundlage für ihre animierten Aquarellzeichnungen. Deren weiche Pastellfarben bieten mit ihrem lichtdurchfluteten Ton einen wohltuenden Kontrast zur düsteren Handlung.
Szenen, wie diejenige der Steinigung, wären in einem Realfilm unerträglich gewesen wären. In stilisierter Form werden sie dagegen zu anschaulichen Gedenksteinen, die ans Leiden erinnern. Und die zum Nachdenken über den Totalitarismus animieren – weit über die Grenzen Afghanistans hinweg.
Kinostart: 5.12.2019