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Neu im Kino Ein Musical mit Trans-Drogenbaron? «Emilia Pérez» sprengt Genres

Kino-Altmeister Jacques Audiard huldigt mit einem flirrenden Genre-Mix dem Zeitgeist – zwischen Kitsch und Abstraktion.

Eine mexikanische Anwältin (gespielt von Zoe Saldaña) wäscht Kriminelle rein, im Auftrag ihrer Kanzlei. Sie hat Gewissensbisse und teilt dies dem Publikum lautstark mit: singend, eingebettet in eine eindrücklich choreografierte Tanznummer.

Alsbald wird die Anwältin von einem Kartell-Krösus gekidnappt. Sie soll ihm eine neue Identität verschaffen: Als Frau – als Emilia Pérez. Das ist der Auftakt zu einer Mischung aus Gangster-Epos, 90er-Jahre-Videoclip und Telenovela.

Keine soziale Tiefe

Klopft man den Film auf seinen sozialrealistischen Gehalt ab, dann klingt «Emilia Pérez» hohl: Weder zur Übermacht der mexikanischen Kartelle noch zu offenen Transgender-Fragen hat er Erhellendes zu sagen.

Jacques Audiard schält seine gewählten Problemkreise bewusst aus ihrer Wirklichkeit heraus – darauf vertrauend, dass sie gleichwohl dem Zeitgeist entsprechen und gerade stilistisch überhöht ihr dramatisches Potenzial freigeben.

Gemeint als Kunst

Regisseur Audiard spielt mit offenen Karten: Die gewählte Form des Musicals macht es ab den ersten Filmminuten klar, dass «Emilia Pérez» als ein Kunstwerk verstanden werden will, und nicht als ein Kommentar zur Weltlage.

Frau mit langen Haaren in bunter Umgebung.
Legende: Aus einem skrupellosen Kartellanführer wird Emilia Pérez, gespielt von der transgeschlechtlichen Schauspielerin Karla Sofía Gascón. why not productions

Auch auf der psychologischen Ebene tut sich wenig: Die Figuren bleiben – trotz der Geschlechtsumwandlung im Zentrum – gefangen in ihren Rollen. Der Arzt sagt, er könne Körper reparieren, aber keine Seelen. Das ist ein Grundmotiv, das man aus früheren Audiard-Werken kennt: Menschen sind vorbelastet und sie können das nicht abstreifen.

In der Sackgasse des Film-Noir

Dieses fatalistische Prinzip ist etwa verankert im Existenzialismus und in der Film-Noir-Tradition, die Audiard gerne als Muster beansprucht. Der dramaturgische Makel dabei: Seine Figuren haben kaum Chancen auf eine persönliche Entwicklung. Sie müssen der Drehbuchvorgabe folgen – bergab.

Bergab geht es in «Emilia Pérez» immerhin mit Sang und Klang, in einem schrillen Sounddesign, mit Tanznummern, mit expressivem Schauspiel und in einer konsequent unnatürlichen Ästhetik.

Werkeln mit dem Ausdrucksmittel

Audiard ist ein Tüftler, ein Künstler, der gerne wuselt in der klassischen cineastischen Grammatik. Und selten hat er seinem Hang zur filmsprachlichen Innovation so wirksam nachgegeben wie in «Emilia Pérez».

Frau in T-Shirt auf einem Bett, hebt Decke hoch.
Legende: Selena Gomez spielt die Rolle von Jessi Del Monte, die Ehefrau des skrupellosen Kartellanführers. why not productions

Also alles nur Stil statt Substanz? Nein. Audiard vertraut auf das Abstrakte. Seine Experimente sind nicht nur Schaubudenzauber, sie sind auch Verfremdungseffekte im Brecht’schen Sinn. Sie sollen Distanz schaffen zwischen dem Gezeigten und dem Publikum. Sie wollen das Künstliche als künstlich blossstellen.

Poesie im Spektakel

Diese theatertheoretische Interpretation von «Emilia Pérez» bietet sich etwa an in einer Szene, in der zahlreiche Bandenmitglieder in Vorbereitung auf eine Schiesserei ihre Maschinenpistolen in einem komplexen Rhythmus und zu sanfter Musik mit Patronenmagazinen aufladen.

Da denkt man sich: Vielleicht hat Audiard mit diesem skurrilen Werk tatsächlich seine eigene Dreigroschenoper geschaffen.

Kinostart: 21.11.2024

Radio SRF 3, 21.11.2024, 9:15 Uhr.

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