Nanook zählt die Wochentage an seinen Fingern ab: «Montag, Dienstag, Freitag» … «Mittwoch», korrigiert ihn seine Frau Sedna. «Mittwoch», wiederholt Nanook und lacht.
Zeit scheint für das betagte Inuit-Paar, das in der unermesslichen Weite Sibiriens lebt, keine Rolle zu spielen. Doch der Eindruck täuscht.
Der Frühling bricht jedes Jahr früher an, die Fische in den Eislöchern machen sich rar und die Rentiere sind weggezogen. Genau wie die Kinder von Sedna und Nanook, die jetzt in der Stadt wohnen.
Das Paar lebt alleine in der Schneewüste, nur sie sind von den Nomaden ihrer Sippe übrig geblieben. Und auch ihnen läuft die Zeit davon.
Nicht authentisch, aber fokussiert
Das Filmdrama «Ága» fängt den kargen Alltag der Nomaden in epischen Bildern ein. Wir sehen Nanook beim Fallenstellen und Jagen, während Sedna die Jurte bewacht, um die der Wind heult. Es sind eindrückliche Aufnahmen, wie von einem anderen Planeten.
Mit der Authentizität ist es nicht weit her: Die Darsteller wurden für ihre Rollen gecastet. Regisseur Milko Lazarov interessiert sich nicht für einen ethnologisch korrekten Zugang zur Welt der Inuits.
Vielmehr steht für den Filmemacher die Integrität der Geschichte im Vordergrund, die sich langsam aus dem Quasi-Dokumentarischen herauskristallisiert. Erzählt wird von einem Generationenkonflikt, der Sedna und Nanook alleine in der Eiswüste ausharren lässt.
In Ungnade gefallen
Sohn Chena kommt zwar gelegentlich zu Besuch und bringt das Nötigste mit: Petroleum und etwas Brennholz. Er berichtet auch von seiner Schwester Ága, die ihr Zuhause im Streit verlassen hat und jetzt in einer Diamantenmine arbeitet. Die Familie erzählt von früher und schwelgt in Erinnerungen. Doch wie Ága in Ungnade gefallen ist, bleibt unausgesprochen.
Für die schwer erkrankte Sedna ist dieser Zustand unerträglich. Sie bittet ihren Mann, Ága aufzusuchen, um sich mit ihr zu versöhnen. Begleitet wird ihre Bitte von klassischer Musik, die aus einem Kofferradio dringt.
Es ist das erste Mal, dass der Film explizit einen Soundtrack verwendet. Wenn Nanook endlich zur Diamantenmine aufbricht, nimmt die emotional aufwühlende Musik laufend zu. Auf den letzten Metern wird der Film zu einem Roadmovie, der dem Melodrama sehr nahe kommt.
So fern, so fremd
«Ága» packt vieles an. Der Film ist eine berührende Liebesgeschichte, ein Familiendrama und ein Film über die Folgen von Zivilisationsdruck und Klimaerwärmung. Doch «Ága» braucht keine grossen Worte.
Dem Film genügen starke Bilder: Eine schwarze Öllache im Schnee oder die Kondensstreifen zweier Flugzeuge, die sich am Himmel kreuzen. So fern, so fremd. Die arktisch weisse Landschaft bringt die wenigen Farben auf der Leinwand förmlich zum Explodieren: den blauen Himmel etwa oder das Blutrot eines verendeten Beutetieres.
Nanook irrt wie ein verlorenes Schriftzeichen durch diesen gewaltigen Weissraum, der bei aller Bedeutsamkeit vor allem eines bietet: Platz für eigene Gedanken.
Kinostart: 8.11.2018