Tina ist besonders. Als Kind war sie sich dessen gewiss. Bis man ihr eintrichterte, dass sie nur besonders hässlich sei. Ganz einfach, weil etwas mit ihrem Chromosomensatz nicht stimme.
Geschätzt wird ihr animalisch wirkendes Anders-Sein nur bei der Arbeit am Zoll. Beim Aufspüren von Schmugglern ist sie effektiver als jeder Polizeihund. Das macht sie einzigartig. Oder doch nicht?
Denn eines Tages taucht ein Mann namens Vore auf, der ihr frappierend gleicht. Nicht nur optisch, sondern auch was ihre übermenschlichen Fähigkeiten betrifft. Die beiden beginnen eine Amour fou, die das Vorstellungsvermögen vieler Zuschauer sprengen wird.
Das menschenfeindlichste Zitat
Was ist der Mensch? Und was macht uns menschlich? Solch tiefschürfenden Fragen verhandelt der Film. Die Antworten, die er seinen Figuren in den Mund legt, decken ein verblüffend breites Spektrum ab.
Misanthrop Vore kommt beim Thema Kinderpornografie richtig in Fahrt: «Menschen sind Parasiten, die alles auf der Erde für ihr eigenes Vergnügen nutzen. Sogar den eigenen Nachwuchs. Ich sage dir: Die gesamte menschliche Rasse ist eine Krankheit.»
Der Regisseur
Ali Abbasi wurde 1981 im Iran geboren. Dort kennt man ihn primär als Autor poetisch-persischer Kurzgeschichten. Erst 2002 emigrierte er nach Schweden, um dort Architektur zu studieren.
Mit einem Bachelor-Abschluss in der Tasche, zog er 2007 weiter nach Dänemark. In Kopenhagen wurde er schliesslich in die Kunst des Filmemachens eingeweiht. Eine Kunst, die er notabene lange als minderwertig betrachtet hatte.
Inzwischen ist Abbasi ein gefeierter Cineast. Sein schaurig-schönes Regiedebüt «Shelley» lief 2016 auf der Berlinale. Und «Gräns» gewann 2018 in Cannes sogar den Hauptpreis der Sektion «Un certain regard».
Fakten, die man wissen sollte
Das Drehbuch basiert auf einer 50-seitigen Kurzgeschichte von John Ajvide Lindqvist. Dessen erster Roman «Let the Right One In» wurde bereits zweimal verfilmt: Die gleichnamige Adaption von Tomas Alfredson aus dem Jahr 2008 gilt als Meilenstein des Vampirfilms.
Das US-Remake mit Chloë Grace Moretz als Blutsaugerin verströmte nicht denselben Zauber. «Let Me In» (2010) hatte weniger Klasse; dafür machte es mehr Kasse: 24 Millionen Dollar spielte der zügig produzierte Genrefilm weltweit ein.
«Gräns» beschreibt Autor Lindqvist als «Liebesgeschichte mit offenen Nervenenden». Für die Leinwandfassung hat Regisseur Ali Abbasi einen weiteren Handlungsstrang hinzugefügt. Seine Heldin sucht nicht nur die grosse Liebe und sich selbst. Sie spürt nebenbei auch noch die Drahtzieher eines Kinderpornografie-Rings auf.
Das Urteil
Unglaublich, was alles in diesem Film steckt! Regisseur Ali Abbasi vereint in «Gräns» das Beste verschiedenster Welten und Kulturen: Poesie persischer Prägung, angereichert mit magischem Realismus aus Lateinamerika. Ein Nordic Noir voller mysteriöser Gestalten, die durch die Wälder trollen. Und nicht zuletzt: Ein Traum für Surrealisten wie Buñuel, nach dem Abbasi seinen Sohn Luis benannt hat.
Inhaltlich mehr zu verraten, würde diesem fantastischen Film einen Teil seiner Spannung rauben. Doch selbst wer schon über die kursierenden Spoiler gestolpert ist, muss sich nicht grämen. «Gräns» ist auch dann noch eine grenzüberschreitende Erfahrung. Ein Trip, der beweist, dass Genre- und Arthouse-Kino nicht zwingend Gegensätze sein müssen.
Kinostart: 28.2.2019