«Cronofobia» beginnt damit, dass wir einen Mann beobachten, der eine Frau beobachtet. Der Mann heisst Suter, einen Vornamen für ihn bekommen wir nicht.
Er parkiert seinen Van in der Nacht vor dem luxuriösen Tessiner Haus der Frau. Er sitzt als Kunde getarnt im Coiffeursalon, in dem sie arbeitet. Er schaut aus dem Auto zu, wenn sie nachts joggen geht. Und er hört zu, wenn sie an einer Bahnschranke regelmässig den durchbrausenden Schnellzug abwartet, um in den Lärm hineinzuschreien.
Die Frau heisst Anna. Sie ist seit kurzem Witwe. Und Suter ist kein gewöhnlicher Stalker. Es ist sein Gewissen, das ihn treibt: Seine Sorge um Anna, die ihn ihrerseits nicht kennt.
Angst vor der Zeit
Als «Chronophobie» bezeichnet man die gesteigerte Angst davor, dass die Zeit vergeht. Eine alltägliche Spielart der Chronophobie wäre etwa die sogenannte «Torschlusspanik».
Für seinen ersten Spielfilm hat der Tessiner Francesco Rizzi eine Geschichte geschrieben um einen Mann ohne Wurzeln und Vergangenheit, und eine Frau, die seit dem Tod ihres Mannes keine Gegenwart mehr hat.
Suter lebt von Tag zu Tag, als sogenannter Mystery-Shopper – eine Art Detektiv, der im Agentur-Auftrag im Detailhandel unehrliches Verkaufspersonal überführt. Stets perfekt verkleidet, mit aufgeklebtem Bärtchen oder Schnauz und mit Aufnahmegerät in der Tasche.
Allein unter Menschen
Manchmal allerdings löscht er die belastende Aufnahme, etwa jene einer Uhrenverkäuferin, die ihm unter der Hand einen günstigeren Preis verspricht – was sie die Markenkonzession kosten könnte.
Und in einem Fall versucht er gar, den von Leonardo Nigro gespielten Verkäufer zu warnen. Vergeblich, mit schrecklichen Folgen.
Suter ist «on the road», lebt in seinem Van, manchmal im Hotel, bewegt sich im gesichtslosen Niemandsland von Einkaufszentren, Tankstellen und Autobahnraststätten. Er ist allein, aber unter Menschen.
Gemeinsam einsam
Anna dagegen will seit dem Suizid ihres Mannes niemanden mehr sehen. Sie schickt sogar ihre besorgten Eltern weg, als sie bei ihr klingeln. Als sie sich weigern, wegzufahren, steigt Anna spontan zu Suter in den Van und herrscht ihn an, loszufahren.
Mit seinem Kameramann Simon Guy Fässler findet Rizzi die richtigen Bilder für das Mystery-Drama um zwei Menschen, die mehr verbindet, als sie voneinander ahnen.
Gelungener Erstling
Suter bewegt sich in der anonymen Welt von Autobahnraststätten und sterilen Hotels, Anna brütet in der Dämmerung ihrer zum Mausoleum gewordenen Tessiner Luxuswohnung – bis sich beide gegenseitig zum Ausbruch provozieren.
Dabei verführt uns der Film subtil und zwingend dazu, die Perspektive seiner Figuren zu übernehmen, mit allen Widersprüchen und Widerständen - um dann gleich wieder die Seite zu wechseln.
«Cronofobia» ist ein überraschend reifes, elegantes Stück Kino.
Kinostart: 04.07.2019