Es klang bereits damals nicht sonderlich glaubwürdig: Rockmusik soll in der Sowjetunion verboten gewesen sein.
Doch dann gab Billy Joel 1987 als erster US-Popstar in Moskau und Leningrad stark mediatisierte Konzerte – und läutete damit das Ende des Kalten Kriegs ein. So begann die Farce – und sie endete 1989 mit David Hasselhoff vor dem Brandenburger Tor.
Dieses Märchen vom lässigen Westen, der den geknechteten Osten kulturell befreit, war immer schon Quatsch: Der Eiserne Vorhang war auf beiden Seiten zugeriegelt, und so bekam es der Westen schlicht nicht mit, dass in Leningrad schon ab den frühen 70ern eine streng regulierte, aber nichtsdestotrotz blühende Rockszene existierte.
Eine Filmbiografie – und mehr
In diese Welt tauchen wir ein im russischen Spielfilm «Leto»: in die intensive, pulsierende, romantische Welt von 1982.
Vereinfacht ausgedrückt ist der Film ein Biopic über die beiden Rockstars Mike Naumenko und Viktor Tsoi – beide waren Helden der russischen Subkultur, und starben Anfangs der 90er viel zu früh: Tsoi in einem Verkehrsunfall, Naumenko an einer Hirnblutung.
Aber «Leto» ist kein klassisches Biopic. Dem Regisseur Kirill Serebrennikow (zurzeit aus anderen Gründen unter Hausarrest) geht es in diesem Film nicht um historische Genauigkeit, sondern allgemein um den subversiven Aspekt des künstlerische Ausdrucks in einem Klima der Unterdrückung.
Rock-Klischees werden dabei nur am Rand bedient: Naumenko hat keine Groupies, sondern eine Frau und ein Kind.
«Du bist für keinen Skandal zu gebrauchen. Mick Jagger wäre nicht stolz auf dich», wird ihm einmal gesagt. «Mick Jagger? Der hat halt keine Natacha», antwortet Naumenko lächelnd und nimmt seine Frau in den Arm.
Nach Gehör transkribiert
Naumenko ist ohnehin nicht so der Stones-Typ. Zuhause hortet er Aufnahmen von Iggy Pop, Lou Reed und David Bowie.
Die gesungenen Texte dieser Songs transkribiert er sorgfältig in Hefte, frei nach Gehör. «Es ist wahrscheinlich nicht ganz fehlerfrei», sagt er zu Viktor Tsoi, als er ihm diese Hefte zeigt.
Die Liebe zur Musik
Serebrennikovs Film ist ein Film über die Liebe zur Musik – und über die Liebe schlechthin. Mike liebt Natacha, Natacha liebt Viktor. Natacha fragt Mike, ob sie Viktor küssen darf. Mike fördert den jüngeren Viktor, Viktor schätzt das.
Es ist eine bittersüsse Ménage à trois, die vieles auslöst – aber auffällig wenig Eifersucht. «Viktor und ich halten doch nur Händchen», sagt Natacha zu Mike. «Händchenhalten ist doch das Schlimmste von allem», seufzt dieser ironisch.
Ein Skeptiker greift ein
Die russische Rock-Legende Boris Grebenshchikov (sein junges Alter Ego kommt im Film ebenfalls vor), zeigte sich über das Filmprojekt wenig begeistert: «In diesem Drehbuch sind wir alle Moskau-Hipster, die nichts auf die Reihe kriegen, ausser auf Kosten anderer Leute miteinander zu schlafen», liess er sich zitieren.
Dieses vernichtende Urteil mag Gründe haben – aber es läuft ins Leere. Denn wohlweislich haben die Autoren des Buchs (Serebrennikow gehört nicht dazu) eine Meta-Figur in die Story eingebaut, den sie den «Skeptiker» nennen.
Dieser Skeptiker greift mit bissigen Sprüchen in die Handlung ein, er fordert Revolution und wendet sich direkt in die Kamera ans Publikum: «Das alles ist nie passiert», steht einmal in roten Lettern auf einer Zeitungsseite, die er nach einem besonders heftigen Konzertauftritt ins Bild hält.
Was tatsächlich passiert ist, sei dahingestellt. Was aber auf der Leinwand in diesem Film passiert, steht für sich: packend inszenierte Musiknummern in glühendem Schwarzweiss, energische Aufbruchstimmung, pointierte Dialoge und vor allem mittendrin eine subtile Dreier-Romanze, die diskret an François Truffaut und Jean Eustache erinnert.
«Leto» ist ein wirklich grosser Film über Liebe und Freiheit.
Kinostart: 15.11.2018