Betrachtet man nur die nackten Zahlen, denkt man unweigerlich an ein Sportmärchen: Klein-Marinette (Körpergrösse: 1.63 Meter) kickte zunächst mit den besten Jungs, bevor sie den Frauenfussball revolutionierte. Dank extremer Wendigkeit und Schusskraft gelangen der Französin in 112 Länderspielen 81 Tore.
Eine ungetrübte Erfolgsstory also? Mitnichten. Mit dem Nationalteam kam die Ehrgeizige bei den grossen Turnieren nie auf einen grünen Zweig. Und auch abseits des Rasens stellten Marinettes Mitmenschen der Verfasserin der Autobiografie «Niemals nachlassen» immer wieder ein Bein.
«Weil ich ein Mädchen bin»
Geprägt von einem gewalttätigen Vater mit Machogehabe glaubte sie zunächst, keinen Fussball spielen zu dürfen. Als der vierjährige Wirbelwind am Spielfeldrand von einem aufmerksamen Trainer zum Mitkicken animiert wurde, winkte sie ab: «Leider geht das nicht. Weil ich ein Mädchen bin.»
«Na, das ist ja wohl kein Grund», meinte Marinettes erster Förderer, der seiner Zeit 1980 weit voraus war. Was folgte, war einer von vielen filmreifen Momenten im Leben der wundersam Talentierten. Sie kam, sah und skorte.
Sieben Jahre später steht Marinette als einziges Mädchen im Juniorenfinale, was man sie gleich spüren lässt: «Hey Pussy, mach dich vom Acker und spiel mit deinen Puppen!» Übelster Sexismus, der in Hollywood-Manier sofort bestraft wird. Nur wenig später zappelt Marinettes Geschoss im Netz der bösen Buben.
Kämpferin mit Nehmerqualitäten
Das klingt alles fast zu klischiert, um wahr zu sein. Doch soweit sich das recherchieren lässt, muss sich Marinettes Leben tatsächlich so abgespielt haben. Da das Regelwerk keine Frauen im Männerfussball erlaubt, darf sie ab 16 nicht mehr mit den Jungs mitkicken. Und weil Frauenfussball kaum Geld einbringt, schlägt sich Marinette mit Gelegenheitsjobs durch.
Ein Schicksal, das sie bis heute mit vielen Landsfrauen teilt. Mittlerweile verdienen französische Fussballerinnen in der obersten Liga zwar etwas mehr, im Schnitt aber immer noch viel zu wenig: 1300 Euro. Das ist über 500-mal weniger als ein durchschnittlicher Kicker in der Ligue 1 kassiert.
Es geht hier also nicht um Parität, sondern ums Überleben. Wer in den 1990ern wie Marinette als Frau vom Fussball leben wollte, musste Übermenschliches leisten: Mit 18 im Nationalteam debütieren. Sportliche und private Tiefschläge einstecken. Und sich zurück an die Spitze kämpfen.
Auf den Spuren von Rocky
Der Befreiungsschlag gelang Marinette erst mit 26. Als sie in die USA emigrierte, wo sie zum Star der Soccer-League avancierte. In Philadelphia, der Stadt der brüderlichen Liebe, schüttelte die Stürmerin ihre Selbstzweifel ab und fand zu sich. Nun konnte sie nichts mehr stoppen.
Das Biopic feiert die Hartnäckigkeit, mit der Marinette ihre Ziele verfolgt, in einer klassischen Trainingssequenz. Begleitet von treibender Musik joggt sie dem Schuykill River entlang, bevor sie die Treppen zum Kunstmuseum von Philadelphia hochsprintet. Die Referenz ist offensichtlich: Rocky stand hier Pate – nicht nur für den konventionellen Film, sondern auch die Spitzensportlerin.
Marinette Pichon, die sich stets als Underdog betrachtet hatte, boxte sich durch. Privat fand sie ihr Glück erst nach ihrem späten Outing kurz vor Karriereende. Heute lebt sie mit ihrer Frau und zwei Söhnen nicht wie Gott in Frankreich, sondern als Pionierin des Weltsports in Kanada.
Kinostart: 22.6.2023