Sie heissen Sinan, Agit oder Kianush. Sie tragen Bärte, stammen aus der Türkei, dem Iran oder aus Palästina und bewegen sich fast ausschliesslich in ihren Grossfamilien, ihren Clans, ihren Gangs: Sie leben in einer Art Parallelwelt zur deutschen Gesellschaft.
Früh bringt der Film «Another Reality» auf den Punkt: Diese Männer sind oder waren einmal kriminell. Darüber sprechen sie direkt in die Kamera.
Einer sagt etwa: «Wenn Du Dich als Kanacke irgendwo bewirbst, dann fängt das schon an. Wenn ich jetzt Achim heissen würde statt Ahmad, dann würde die ganze Welt anders aussehen. Dann wär ich vielleicht Fussballprofi geworden.» Aber das schnelle Geld mit halblegalen Geschäften lockt immer wieder.
Grobes Geschütz
Von der Kleinkriminalität schlägt der Film dann aber einen raschen Bogen zu härterem Geschütz – zu tödlichen Familienfehden, zu Bandenkriegen und Ehrenmord.
Einer der Protagonisten sagt, ohne mit der Wimper zu zucken, er müsse immer mit dem Gesicht zur Tür sitzen: «Wenn einer mit der Waffe reinkommt und mir in den Kopf schiesst, dann will ich wissen, wer mich umlegt.»
Das ist harter Tobak. Und gerade deshalb müssten die beiden Macher der schweizerisch-deutschen Koproduktion hierzu etwas klarstellen: Der Mann, der hier spricht, ist nicht ein anonymer Verbrecher, sondern ein Künstler in seiner Pose.
Genauer gesagt ein deutsch-iranischer Gangster-Rapper namens Sinan G. Wer seinen Wikipedia-Eintrag durchliest, stösst auf eine stattliche Karriere im Showbusiness.
Das mag nichts am Trauma des Mannes ändern, aber es macht einen Unterschied: Wenn Sinan G. lautstark mit der Härte seines Verbrecherlebens prahlt, dann pflegt er hier nicht zuletzt auch sein öffentliches Image. Das sollte der Film möglichst früh mitteilen – tut er aber nicht.
Mit oder ohne Rap
Die Dramaturgie des Films enthüllt erst nach und nach, dass einige der Protagonisten erfolgreiche Rapper sind. Dabei wäre diese Information wesentlich: Die hier porträtierten Männer sind – auch ohne Rap – alle Sprechkünstler.
Der Film dreht sich weniger um eine düstere Parallelgesellschaft in Berlin oder in Essen, die er im Titel ankündigt, sondern vielmehr um die Art und Weise, mit wie viel Schmackes und Herz diese Männer über ihre Welt und ihre Werte sprechen.
Letztlich ist es sogar egal, ob die Protagonisten nun über ihre Verwicklungen in die Illegalität sprechen, oder sich einfach nur im Imbiss über die Qualität der Köfte unterhalten: «Das schmeckt ja ganz lecker, aber nicht so gut wie zu Hause.» «Wo schmeckt’s schon wie zu Hause?» «Na, im Knast.» Gelächter.
Men only
«Another Reality» macht Spass – vorausgesetzt, man mag sich 90 Minuten lang mit Deutschrap, derbem Gangstersprech und striktem Mackerhumor auseinandersetzen – denn Frauen und Kinder sind im Film kaum zu sehen. Glattrasierte Männer übrigens auch nicht.
Kinostart: 3.12.2020