Sibel, die stumme Tochter eines verwitweten Bürgermeisters, ist sein heimlicher Stolz. Er geht mit ihr auf die Jagd. Er weiss, sie ist die bessere Schützin als er. Er vertraut ihr, lässt sie ohne Kopftuch und jederzeit das Haus verlassen.
Wege zum Wolf
Für die Frauen des Dorfes ist Sibel mit ihrer demonstrativen Freiheit ein Ärgernis und eine potentielle Bedrohung. Für die Männer schlicht eine arme Behinderte.
Nicht zuletzt darum ist die junge Frau auf der Pirsch.
Ihr Traum ist es, den Wolf zu erlegen. Das Dorf von der unsichtbaren Bedrohung zu befreien und so ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden.
Dieser Wolf existiert aber nicht wirklich. Dafür taucht der junge Deserteur Ali im Gebüsch auf. Er wirkt auf Sibel wie ein Werwolf: faszinierend und anziehend gefährlich.
Was würde Erdogan sagen?
Gefilmt ist das alles in einer überaus malerischen Umgebung: in Teeplantagen, auf Maisfeldern, im Dorf und im Wald, mit schönen, farbsatten Bildern.
Aber obwohl der Film nur 95 Minuten lang ist, zieht er sich doch zunehmend in die Länge. Am meisten gegen sein Ende, als die künstlich geschürte Wolfs-Angst und die Terroristenhetze in der aktuellen Türkei etwas gar deutlich ausgespielt werden.
So sehr, dass man sich unwillkürlich fragt: Wird dieser Film in dieser Schnittversion wohl je in Erdogans Reich gezeigt werden können?
Reden ohne Worte
Cağla Zencirci und Guillaume Giovanetti – ein türkisch-französisches Filmer-Paar – haben etwas gar viel in ihren Film gepackt.
Die Parabel von der bedrohten traditionellen Macht, die sich zu halten versucht, in dem sie alle Oppositionellen zu Terroristen erklärt. Den Wolf als projizierte Bedrohung für die Gemeinschaft und als erotische Phantasie für eine erwachende junge Frau. Die Stummheit der Hauptfigur als Ausdruck ihres Andersseins und Grund für ihre Aussenseiterrolle.
Und die faszinierende, tatsächlich existierende Pfeifsprache in diesem kleinen Bergdorf in der türkischen Schwarzmeer-Gegend: Eine Möglichkeit für die stumme Sibel, trotzdem kommunizieren zu können – aber nur mit Einheimischen, nicht mit dem Deserteur Ali.
Ansatzweise Spannung
Immerhin sind neben all den märchengerecht eindimensionalen Figuren jene der Sibel (Damla Sönmez) und jene des Vaters (Emin Gürsoy) ausgesprochen modern und faszinierend widersprüchlich.
Ihre Konflikte sorgen dafür, dass immer wieder echte Spannung aufkommt. Durchgehend durchhalten kann der Film diese Spannung aber nicht.
Kinostart: 10.01.2019