Lyon, März 1895. Durch das Haupttor der Lumière-Werke, die fotografische Platten herstellen, strömen Arbeiter auf die Strasse: Frauen, Männer, ein Pferdewagen. Die Besitzer der Fabrik, Auguste und Louis Lumière, halten die Szene mit ihrer neuen Erfindung fest: Ihr Kinematograf ist zwar nicht die erste Kamera der Welt, aber ihre Bilder machen Filmgeschichte.
Spielerisch den Film erkunden
Bis zum Verkauf ihres Patents im Jahr 1905 drehen die Brüder Lumière über 1400 Aufnahmen. 108 davon hat Thierry Frémaux, Direktor des Institut Lumière, zusammengeschnitten und mit Kommentaren versehen. «Lumière! L’aventure commence» heisst der sorgfältig montierte Dokumentarfilm.
Die nur 50 Sekunden langen Filme sind in losen Kapiteln geordnet und zeigen Waschfrauen am Fluss, exotische Schauplätze oder ein Fussballspiel, bei dem der Ball kaum im Bild ist.
Die Brüder Lumière bedienen dabei nicht nur die Kamera, sie agieren auch oft davor: Schon ihre frühesten Aufnahmen sind nicht rein dokumentarisch, sondern erkunden spielerisch das Potenzial des Mediums Film.
Die Geburt des Slapsticks
Mit der Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof der südfranzösischen Hafenstadt La Ciotat erschrecken die Lumières ihr Publikum, mit einem sabotierten Gartenschlauch bringen sie es zum Lachen: Et voilà, der Slapstick ist geboren.
Der Kinematograf fängt aber nicht nur Bewegung ein, er bewegt sich auch selber. So stellen die Brüder Lumière ihre Erfindung in einen Zug, in einen Fesselballon oder auf ein Schiff, das die Seine hinuntertreibt.
Melancholische Musik
Kommentator Thierry Frémaux preist die Reinheit und den schwermütigen Ton der Aufnahme. So treffend seine Beobachtungen in der Regel sind, schiessen sie wie hier auch manchmal über das Ziel hinaus: Ihre angebliche Melancholie jedenfalls verdankt die Flussfahrt hauptsächlich der Musik von Camille Saint-Saëns, der ein Zeitgenosse der Brüder Lumière war.
Der Dauereinsatz des Komponisten verleiht dem Dokumentarfilm ein Pathos, das nicht immer zu den Bildern passt. Sie wirken oft musealer als nötig.
Ein französisches Kulturerbe
Doch der Anspruch ist unmissverständlich: Bei den Aufnahmen der Brüder Lumière handelt es sich um ein französisches Kulturerbe von Weltrang, und Thierry Frémaux schreibt den beiden Unternehmern nichts Geringeres zu, als die Erfindung der Filmkunst. Im Abspann tritt Martin Scorsese stellvertretend für Hollywood auf, um den französischen Filmvätern zu huldigen.
Auch wenn die Wirkungsmacht der französischen Pioniere mitunter überhöht wirkt, ist «Lumière! L’aventure commence» ein lohnender Dokumentarfilm. Wer sich für die Ursprünge des Kinos interessiert, sollte die Ankunft des Zuges in La Ciotat auf der grossen Leinwand nicht verpassen.
Kinostart: 4. Januar 2018
Sendung: Kultur aktuell, 3.1.18, 17.10 Uhr, Radio SRF 2 Kultur