Max Frischs «Stiller» auf die Leinwand zu bringen, ist kein leichtes Unterfangen. Der Roman spielt auf rund 450 Seiten auf zahlreichen Realitäts- und Zeitebenen, ohne dass auf der zentralen Handlungsebene besonders viel passieren würde. Es gab schon mehrere Versuche, den Stoff zu verfilmen, etwa von Wim Wenders.
Der Schweizer Regisseur Stefan Haupt zeigt nun: Es geht. Die Übersetzung des Romans in ein Drehbuch erfordert aber Mut zur Reduktion. Haupt hat die versponnene Geschichte entflechtet und sich auf den überschaubaren Haupterzählstrang konzentriert.
«Ich bin nicht Stiller»
An den dürfte sich so manche Zuschauerin noch erinnern: Ein Mann wird an der Schweizer Grenze festgenommen, weil sein Pass verdächtig erscheint. Er nennt sich James Larkin White, ein Mitreisender erkennt in ihm aber den verschollenen Bildhauer Anatol Stiller.
White landet in Zürich in Untersuchungshaft, fest darauf beharrend, dass er nicht Stiller sei, obwohl immer mehr Zeugen ihn als diesen erkennen. Stillers Ehefrau reist aus Paris an, auch sie zweifelt nicht daran, dass White Stiller ist. Während sie sich an die dramatisch gescheiterte Ehe mit Stiller erinnert, entwickelt sich zwischen ihr und White eine Liebschaft.
Vielschichtige Vorlage
Frisch erzählt diese Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, vermischt sie mit Lügengeschichten, Anekdoten und Märchen. Der Film lässt vieles davon weg, wie auch den längeren Epilog: Im Buch berichtet zum Schluss der Staatsanwalt, wie White, nachdem ihm seine alte Identität aufgezwungen wurde, einen traurigen Neuanfang versucht.
Stiller ist keine liebenswürdige Figur. Er ist selbstsüchtig und neidisch, betrügt seine schwerkranke Frau. Eine der grossen Stärken von Frischs Roman ist der Detailreichtum, mit dem er die Figuren und ihre Beziehungen bis hin zur kleinsten Geste studiert.
Da muss ein 100-minütiger Spielfilm freilich mit einem gröberen Pinsel hantieren – und das tut er durchaus effektiv. Aus der Frage, warum White nicht mehr Stiller sein will, generiert Haupt ordentlich Spannung, auch dank ausgezeichneten Hauptdarstellern.
Ein Fall für Zwei
Gelungen ist der Einfall, White und Stiller von verschiedenen Darstellern spielen zu lassen, die nach und nach zu einer Figur verschmelzen. Als White glänzt der Deutsche Albert Schuch, den man etwa aus «Im Westen nichts Neues» (2022) kennt, den Stiller gibt der Schweizer Sven Schelker.
Von diesem Kniff abgesehen ist «Stiller» ein recht konventioneller Film, der sich aber redlich darum bemüht, der komplexen Vorlage gerecht zu werden. Trotz des Willens zur Reduktion arbeitet er sich an der Herkulesaufgabe ab, alle Aspekte dieses facettenreichen Romans unter einen Hut zu packen.
An der Handlung von «Stiller» hängen viele Fragen, die uns heute genau so interessieren wie in den 1950er-Jahren, als Frisch seinen Roman veröffentlichte. Allen voran natürlich die Frage, ob wir ein anderer sein können als der, den die anderen in uns sehen – aber auch jene, wie Männlichkeit aussehen soll und die, ob Liebe die Zeit und menschliche Unzulänglichkeiten überstehen kann.
Kinostart: 16.10.2025