Cate Blanchett ist für ihre Rolle als Star-Dirigentin Lydia Tár für einen Oscar nominiert. Diese Lydia Tár sagt Dinge wie: «Zeit ist die Essenz der Interpretation. Ohne mich kann man nicht anfangen. Ich starte die Uhr. Meine linke Hand gibt die Form vor. Aber meine rechte Hand, die zweite Hand, gibt die Zeit vor.»
Tár ist ein überhebliches Genie, dem die Klassik-Szene zu Füssen liegt. Die fiktive US-Amerikanerin leitet das Berliner Philharmoniker-Orchester, komponiert und schreibt Bücher. Ihre Karriere hat sie fest im Griff.
Doch dann werden Vorwürfe gegen die Dirigentin laut. Sie nutze ihre Macht aus. Manipuliere und missbrauche junge Menschen. Zerstöre die Karrieren derer, die nicht nach ihrer Pfeife tanzen.
Vorwürfe, die seit #MeToo oft zu hören sind, sich jedoch meist gegen Männer richten.
Machtmechanismen durchschauen
«In ‹Tár› geht es um die korrumpierende Natur der Macht», erklärt Hauptdarstellerin Cate Blanchett im Interview mit SRF. «Wie das aus männlicher Perspektive aussieht, wissen wir, denn wir leben in einem Patriarchat. Da im Film eine Frau im Zentrum steht, können wir die Mechanismen besser erkennen.»
Diese Meinung teilen nicht alle. Die US-amerikanische Dirigentin Marin Alsop erhob im Januar in der Sunday Times Vorwürfe gegen den Film. «Ich fühle mich von ‹Tár› als Frau, Dirigentin und Lesbe beleidigt», titelte die Zeitung .
Vorbild wider Willen
Marin Alsop hat sich im Film wiedererkannt. Wie die Filmheldin war auch sie eine Schülerin des Dirigenten Leonard Bernstein und ist homosexuell. Um nur zwei der vielen Parallelen zu nennen.
Marin Alsop gilt als erfolgreichste Dirigentin der Welt. Im Jahr 2007 übernahm die heute 66-Jährige als erste Frau die Leitung eines grossen US-amerikanischen Orchesters, des Baltimore Symphony Orchestra.
Dirigentinnen haben es bis heute schwer. Unter den 100 meistbeschäftigten Maestros sind im Jahr 2022 gerade einmal 12 Frauen, schreibt die Fachseite für klassische Musik Bachtrack.
Ein frauenfeindlicher Film?
Marin Alsop sagte im Interview mit der Sunday Times: «In ‹Tár› hatte man die Chance, eine Frau in der Rolle einer Dirigentin zu zeigen. Und dann macht man sie zur Täterin. Das bricht mir das Herz.»
Weiter meint sie: «Es gibt so viele Männer – reale Männer – auf denen dieser Film hätte basieren können. Aber stattdessen stellt der Film eine Frau in den Mittelpunkt und gibt ihr die Attribute dieser Männer. Das fühlt sich frauenfeindlich an.»
Regisseur Todd Field widerspricht diesen Vorwürfen: «Indem wir das Ganze abstrahieren und eine Frau ins Zentrum stellen, können wir sehen, wie die Machtstrukturen aufgebaut sind, wie sie funktionieren und wer davon profitiert», erklärt er gegenüber SRF. «Wenn es um einen Mann gehen würde, würde ich wahrscheinlich abschalten, denn man liest in diesem Zusammenhang ständig von Männern. Darüber haben wir alle bereits eine gefestigte Meinung.»
«Die Musikbranche muss sich ändern»
Gleichzeitig verstehe er viele von Marin Alsops Kritiken – gerade an der Musikbranche. «Ich stimme ihr darin zu, dass sich die klassische Musikbranche ändern muss. Frauen müssen mehr Chancen bekommen.»
Marin Alsops Enttäuschung ist nachvollziehbar. Doch tatsächlich ist «Tár» gerade deshalb so eindrücklich, weil man eine Frau in dieser Rolle nicht erwartet. Und damit ein anderer Blick auf das Thema Machtmissbrauch ermöglicht wird.
Kinostart 23.2.2023