Der Dokumentarfilm «Cunningham» zeigt, wie der US-amerikanische Choreograph Merce Cunningham den Tanz revolutionierte.
Der Film werde dem Bewegungskünstler gerecht, sagt Tanzprofessorin Christina Thurner. Denn der Film tut, was Cunnigham ausmachte: Er wagt Experimente.
SRF: Welche Bedeutung hat Merce Cunningham für die heutige Tanzszene?
Christina Thurner: Der Einfluss ist immens. Merce Cunningham hat das Verhältnis von Tanz und Musik revolutioniert.
Er wollte nicht akzeptieren, dass Tanz bloss eine harmonische Bewegung zu Musik sein soll. Und er wollte die Beschränkungen des menschlichen Körpers in der Bewegung nicht akzeptieren. Er hat stets versucht, die Körper herauszufordern.
Merce Cunningham war sehr experimentierfreudig. Was war neu an seinem Tanz?
Er wollte sich nicht einordnen lassen in irgendeinen narrativen Tanz. Er hat mit dem Handlungsballett gebrochen. Er wollte aber auch nicht dieses Emotionale, Gefühlsvolle des Modern Dance.
Er ging von der Bewegung aus und schuf etwas sehr Formales: Er wollte, dass die Körper Bewegung sind. Die Interpretation sollte vom Publikum kommen.
Gibt es heute noch Choreografen, die nach dem «Cunningham»-Prinzip arbeiten?
Es gibt viele Choreografinnen, die das Verhältnis von Tanz und Musik weiterhin in diesem grossen Spannungsverhältnis ernst nehmen. Einige experimentieren mit dem Körper: Zum Beispiel, dass der Unterkörper, die Arme und der Rumpf unabhängig voneinander Bewegungen generieren.
Das einzige Ärgernis sei, dass die Tänzer die Köpfe nicht 360° drehen können.
Andere Choreografen erfinden mit Hilfe von Cunninghams Computerprogramm neue Bewegungen, die über die vermeintlichen Möglichkeiten des menschlichen Körpers hinausgehen. Sie erfinden weiterhin neue Bewegungen, die über die vermeintlichen Grenzen des menschlichen Körpers hinausgehen.
Wie ist dieses Computerprogramm zustande gekommen?
Cunningham hatte es zusammen mit Informatikern entwickelt. Es ging darum, dass die einzelnen Körperteile unabhängig voneinander Bewegungen kreieren können.
Daraus ergaben sich Bewegungen, die ein Tänzer von sich aus nie so gemacht hätte. In einem Interview sagte Cunningham einmal, das einzige Ärgernis sei, dass die Tänzer die Köpfe nicht um 360° drehen können.
John Cage spielte privat und beruflich eine wichtige Rolle in Cunninghams Leben. Was machte ihre Beziehung so speziell?
Bei Cunningham und Cage hat es gefunkt, weil sich beide für eine Erneuerung ihrer Künste interessiert haben. Sie wollten auf spielerische Weise Konventionen brechen. Als Verfechter der Demokratie der Künste waren für die zwei Musik, Tanz, Bühnenbild und Kostüme absolut gleichwertig. Cage arbeitete an seiner Musik und Cunningham mit seinen Tänzern.
Mach du so lange Musik und wir machen so lange Tanz.
Erst bei der Premiere kamen Musik und Tanz zusammen. Das Prinzip des Zufalls hat sie gleichermassen interessiert. Beide hatten das Vertrauen, dass es funktioniert.
Wie haben John Cage und Merce Cunningham die Arbeit an ihren Werken aufgeteilt?
Die Anekdote geht so: Sie haben sich auf die Länge des Stücks geeinigt. Cunningham sagte zu Cage: «Mach du so lange Musik und wir machen so lange Tanz.»
Zum Schluss ganz kurz: Wird der Film Cunningham gerecht?
Der Film wird Merce Cunningham gerecht, weil er sich wirklich auf seine experimentellen Ideen fokussiert und diese filmisch umsetzen weiss. Dafür greift er auf sehr viel spannendes dokumentarisches Material zurück.
Oft sehen wir richtig lange Szenen aus seinen Choreografien, die in der 3D-Filmfassung besonders plastisch rüberkommen. Schliesslich dauert ein Cunningham-Stück etwa anderthalb Stunden. Das ist ziemlich anstrengend, weil sich sein Tanz einer Leichtigkeit entzieht, die eine klassische Geschichte hervorbringen würde.
Das Gespräch führte Cynthia Ringgenberg.