Einen riesigen Vorteil haben fantastische Filme: anything goes . Mehr noch: Auf gesellschaftliche, biologische oder sonstige Einschränkungen zu pfeifen, betrachten viele gar als die grösste Stärke dieses Genres.
Das Marvel Cinematic Universum (MCU) ist diesbezüglich nicht ganz so frei. Schliesslich sollen Comic-Nerds, die um die Ursprünge ihrer Idole wissen und denen das gedruckte Bild heilig ist, nicht vergrault werden.
Dass nun eine Dame den Kriegshammer Mjölnir schwingt, haben sich folglich nicht genderbewusste Hollywood-Autoren ausgedacht: Die weibliche Figur Mighty Thor tauchte schon 2014 in einem Comic auf. Ein Jahr später wurde deren menschliche Identität enthüllt: Hinter der neuen Superheldin steckt eine Astrophysikerin namens Jane Foster.
Weder Jane Fonda noch Jodie Foster
Jane Foster? Klingt irgendwie vertraut. Trotzdem dürften nur Fans den Namen richtig zuordnen können: So heisst nämlich die menschliche Freundin des Donnergottes, die in Thors Kinoabenteuern jeweils von Natalie Portman gespielt wird. Wirklich wichtig war diese Figur im MCU allerdings bisher nicht.
Am meisten Platz wurde ihr im zweiten Teil («The Dark Kingdom») eingeräumt: als diejenige, die Thor anschmachten und schliesslich von ihm gerettet werden durfte.
Erst jetzt, im vierten «Thor», schwingt sie sich – der Comic-Vorlage folgend – zur Heldin auf: Indem sie dem Ruf des verlorengeglaubten Hammers Mjölnir folgt und dessen Superkräfte nutzt, um das Wachstum ihres Brustkrebses hinauszuzögern.
Die Rollenverteilung ist frisch, der Humor nicht
Die Machtverhältnisse haben sich verschoben: In «Thor Four», wie man den neuen Film lautmalerisch nennen könnte, begegnen sich die Figuren von Natalie Portman und Chris Hemsworth erstmals auf Augenhöhe. Ja, die weibliche Thor-Variante benimmt sich in den gemeinsamen Szenen sogar deutlich heroischer als ihr männliches Pendant.
Während sie selbstsicher den Hammer Mjölnir in der Hand hält, trauert er insgeheim der guten alten Zeit nach, in der er beide fest im Griff hatte: die göttliche Waffe Mjölnir und die irdische Schönheit Jane Foster. Denn nun ist alles anders: Immer wieder muss er zu Kreuze kriechen, um seine eifersüchtige Streitaxt Stormbreaker zu besänftigen. Und auch die Liebe der mächtig verwandelten Jane Foster muss hart erkämpft werden.
Im Zentrum von «Thor: Love and Thunder» steht also eine komplizierte Beziehungsgeschichte, deren komödiantisches Potenzial Regisseur Taika Waititi voll auszuschlachten weiss. Dessen Credo lautet ganz offensichtlich: lieber ein Witz zu viel als zu wenig. Masse vor Klasse. Wer dachte, Waititi habe die Grenzen des Möglichen bereits mit «Thor 3» ausgereizt, wird hier eines Besseren belehrt.
Selbstgefällige Narretei ohne klare Narration
Waititis neuster MCU-Streich ist eine regelrechte Gagparade, die eher an überdrehte Genre-Parodien der 1990er erinnert, als an Thors erste zwei Leinwand-Abenteuer. Der mit viel Ironie und Nostalgie verwendete Soundtrack von Guns n’ Roses passt bestens dazu.
Völlig aus dem Rahmen fällt dagegen der von Christian Bale hingebungsvoll verkörperte Bösewicht: Sein vor Gravitas und Tragik nur so strotzender Charakter Gorr ist – umgeben vor blökenden Weltraum-Ziegen und anderen Witzfiguren – buchstäblich im falschen Film.
Nicht nur die Tonalität, auch die Erzählung selbst macht wilde Sprünge. Das wirkt manchmal originell, meist aber bloss unfokussiert. «Thor: Love and Thunder» dürfte das Publikum darum mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurücklassen. Waititi bleibt eine Bereicherung fürs Marvel-Universum – auch wenn nicht jede seiner schreienden Ziegen schreiend komisch ist.
Kinostart: 07. Juli 2022