Die 1883 erschienene Novelle von Guy de Maupassant ist nicht gerade ein fröhliches Werk. «Une vie» ist die Geschichte der Baroness Jeanne Le Perthuis, einer zunächst lebenslustigen Frau aus tolerantem, aufgeklärtem Elternhaus.
Traurig und trotzdem leicht
Jeanne möchte so schnell als möglich raus in die Welt. Sie heiratet darum schon 17-jährig den Baron Julien de Lamare. Zuerst ist sie ihm in schwärmerischer Liebe zugetan. Dann entpuppt er sich schon auf der Hochzeitsreise als krankhaft geizig.
Er beginnt auch bald mehrere Affären, während er seine lebenshungrige Frau eingehen lässt. Jeanne projiziert all ihre Liebe auf ihren Sohn Paul, der dadurch zum verwöhnten, undankbaren Bengel und spielsüchtigen Erwachsenen heranwächst.
«Une vie» erzählt in Stationen einen grossen Teil dieses unglücklichen Frauenlebens. Dem französischen Regisseur Stéphane Brizé gelingt das Kunststück, dieses traurige Leben, diese Einsamkeit sehr authentisch auf die Leinwand zu bringen. Und gleichzeitig einen luftig lichtdurchfluteten Film zu drehen.
Historische Kostüme, verankert in der Gegenwart
«Une vie» ist zwar ein Kostümfilm – er spielt irgendwann im 19. Jahrhundert – ist aber in seiner Machart sehr modern: Er springt in den Zeiten hin und her, ist sehr unmittelbar, fast schon mit dokumentarischer Anmutung gedreht. Das ist seltsam in einem Kostümfilm, funktioniert aber wunderbar.
Als Zuschauerin ist man nahe an den Figuren. Die Kamera schafft intime Nähe zu Jeanne und ihrem Schicksal: Trotz der Verankerung in einer früheren Zeit, in einem Schloss irgendwo in der Normandie, ist dieser Film von einer unglaublichen Gegenwärtigkeit.
Der Rest ist Atmosphäre
Das mag mehrere Gründe haben: Der Film nimmt sich viel Zeit, um Stimmungen und Atmosphäre einzufangen – und so das Literarische der Novelle von Maupassant filmisch umzusetzen.
Zu Beginn zum Beispiel wird die Verliebtheit von Jeanne auf der Hochzeitsreise nach Korsika dargestellt. Viel wird nicht gesprochen, gezeigt wird das Paar auf einer Wanderung, wie es auf einem Berg sitzt, die Aussicht übers Meer geniesst, wie sich ihre Hände verschränken.
«Wirst du mich immer lieben?», fragt sie. «Natürlich, ich werde dich immer lieben», sagt er. Der Rest ist Stimmung, Atmosphäre.
Ohne viele Worte
In den Szenen, die Brizé zeigt, wird oft wenig gesprochen. In Gesten und Blicken der Figuren hingegen wird viel erzählt. Einmal spielen Jeanne und Julien etwa mit einem befreundeten Ehepaar ein Ballspiel. Später wird Julien mit der anderen Frau ein Verhältnis haben. Das ist in dieser Szene schon zu spüren, ohne dass es ausgesprochen wird.
Die Unmittelbarkeit und Nähe, die der Film schafft, ist zu einem wichtigen Teil der Schauspielkunst von Judith Chemla zu verdanken. Ihre Präsenz ist grossartig, ihre Jeanne von einer Tiefe, die begeistert. Ob sie nun leidet oder lacht, in diesem luziden, wunderschönen Film.
Kinostart: 15.06.2017
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Kompakt, 14.6.17, 16:50 Uhr