Jahrelang gibt es in Ginas Welt nur Hell und Dunkel, Schwarz und Weiss. Die eingeschränkte Wahrnehmung hindert die Amerikanerin aber nicht daran, in der pulsierenden Metropole Bangkok ein erfülltes Leben zu führen. Nicht zuletzt, weil sie mit ihrem fürsorglichen und wohlhabenden Mann James das grosse Los gezogen zu haben glaubt.
Doch ausgerechnet, als sie dank einer neuen Operationsmethode das Augenlicht zurückgewinnt, beginnt ihre Beziehung zu bröckeln. Das Vertraute wirkt plötzlich fremd. Ist es das Ende ihres blinden Vertrauens?
Das schwammigste Zitat
Die frisch operierte, blondierte und sichtlich irritierte Gina fragt James beim gemeinsamen Dinner das Offensichtliche: «Hast du mich früher mehr geliebt?». Statt Klartext zu reden, dreht ihr Mann nach einem kräftigen Schluck Wein den Spiess um: «Ich könnte dich dasselbe fragen.»
Der Regisseur
Kein Schweizer Filmemacher war in Hollywood je erfolgreicher als Marc Forster. «Finding Neverland» brachte ihm 2005 gar eine Nominierung für den Golden Globe als «Best Director» ein.
Bei den Oscars haben Forsters Dramen in anderen Sparten für Aufsehen gesorgt. Aus insgesamt zehn Nominierungen resultierten schliesslich zwei Academy Awards. Unvergessen: Halle Berrys tränenreiche Siegesrede, nachdem sie für «Monster’s Ball» als erste Afroamerikanerin den Hauptdarstellerinnen-Oscar erhalten hatte.
In den letzten Jahren arbeitete Marc Forster vor allem für TV-Stationen und Streaming-Dienste. Als Regisseur drehte er unter anderem den Piloten von Amazons durchschlagskräftiger Krimi-Serie «Hand of God» mit Ron Perlman in der Hauptrolle. Der Auftrag des Fernsehsenders NBC, einen Zehnteiler aus der Feder von Oscarpreisträger Graham Moore zu inszenieren, löste sich für Forster im November 2016 dagegen in Luft auf.
Fakten, die man wissen sollte
Wie nehmen sehbehinderte Menschen die Welt wahr? Und wie kann man ihre eingeschränkte Sicht fürs Kinopublikum erfahrbar machen? An diesen Fragen hat sich Regisseur Marc Forster lange abgearbeitet.
Die liebevolle visuelle Gestaltung verdient daher ein besonderes Augenmerk. Vor allem, wenn man weiss, dass «All I See Is You» für den 36-jährigen Kameramann Matthias Koenigswieser der erste grosse Hollywoodfilm ist. Den Sprung ins Big Business geschafft hat der Österreicher dank Marc Forster, der ihn für den Piloten von «Hand of God» an Bord holte.
Forster und Koenigswieser besitzen nicht nur ein ähnliches feines Auge und dieselbe Muttersprache, sondern auch eine vergleichbare Lebensgeschichte. Beide verliessen bereits vor ihrem 21. Geburtstag die Heimat, um in der Traumfabrik Fuss zu fassen. Das verbindet.
Das Urteil
Seit «Monster’s Ball» (2001) gilt Marc Forster als Drama-Spezialist mit einem guten Gespür für facettenreiche Frauenfiguren. Ohne Forsters sensible Schauspielführung hätte Halle Berry vielleicht nie ihren Oscar gekriegt. Big-Budget-Produktionen liegen dem Schweizer Regisseur dagegen weniger: Weder bei «James Bond: Quantum of Solace» (2008) noch bei «World War Z» (2013) war Forsters Handschrift zu erkennen.
«All I See Is You» passt von seiner Anlage her viel besser in die Kategorie Kritikerliebling. Die Zutaten wären alle da: das Drama, die starke Frau, der künstlerische Anspruch. Leider weiss der stimmungsvoll fotografierte Film mit seiner vielversprechenden Ausgangslage wenig anzufangen.
So bleibt die tragische Geschichte bis zum Ende seltsam matt und unfokussiert. Weil das Drehbuch hinkt und Hauptdarstellerin Blake Lively bei Lichte besehen wohl einfach nicht die schauspielerische Klasse besitzt, um dieses Manko wettzumachen.
Kinostart: 7.12.2017