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Neue Serie auf Netflix «Ethos – Acht Menschen in Istanbul» ist eine gescheite Seifenoper

Die türkische Serie «Bir Başkadır» lässt Gegensätze aufeinanderprallen – und provoziert damit besonders in der Türkei.

Provokativ spielt die türkische Fernsehserie «Bir Başkadır» mit dem Riss zwischen konservativ-religiöser Rückständigkeit und aufgeklärter Moderne in der türkischen Gesellschaft. Jetzt ist die Serie auch international auf Netflix unter dem Titel «Ethos – Acht Menschen in Istanbul» zu sehen.

In der letzten der acht Folgen sehen wir die bekannte türkische Serien-Schauspielerin Öykü Karayel erstmals ohne Kopftuch. Für viele Türkinnen und Türken dürfte schon dieser Anblick eine Provokation gewesen sein.

Dass sie sich in der Rolle als Landei Meryem auch noch als die Intelligenteste entpuppt, gehört zu den Wendungen, mit denen «Bir Başkadır» andauernd Erwartungen unterläuft. Damit scheint Autor Berkun Oya sowohl den einfachen Serien-Junkie als auch die erdogankritischen Intellektuellen abzuholen.

Mit Mantel und Kopftuch in die Stadt

Wenn Meryem aus ihrem ländlichen Vorort von Istanbul in die Stadt fährt, trägt sie ihren langen, hochgeschlossenen grauen Mantel und das Kopftuch.

So gekleidet taucht sie auch bei der Psychologin Peri auf. Peri (Defne Kayalar) soll abklären, ob es für Meryems physisch unerklärliche Ohnmachten einen psychischen Grund gibt.
Der Hodscha, der Religionsgelehrte im Dorf, habe ihr dazu geraten, erklärt Meryem der verblüfften Peri. Sie solle ihm danach Wort für Wort berichten, was besprochen worden sei.

Der Hodscha? Peri kann es kaum glauben. Für sie scheint es sonnenklar, dass die ungebildete junge Frau heimlich in ihren Arbeitgeber verliebt sein muss.

Jedenfalls erklärt sie dies kurze Zeit später ihrer Freundin und Vorgesetzten. Und verweist seufzend darauf, wie schwer es ihr falle, diese junge Frau mit dem Kopftuch ernst zu nehmen.

Das Leben im Aquarium

«Ich habe in den USA studiert, dann bin ich zurückgekommen in dieses Land und jetzt haben sie das Sagen». Mit «sie» meint Peri die Religiös-Konservativen: «Du und ich, wir leben in einem Aquarium», so Peri.

Frau mit streng nach hinten gebundenen Haaren
Legende: Wie Tag und Nacht sitzen sich die Psychologin Peri und Meryem bei den Therapiesitzungen gegenüber. Netflix

In der ersten Folge spielt die Serie mit solchen Gegenüberstellungen – auch bildlich: Minutenlang wird zwischen der verkniffenen Psychologin Peri und der bekopftuchten Meryem hin- und her geschwenkt. Beide Frauen im gleichen Bildausschnitt: spiegelbildlich, aber in konträren Welten.


Von Folge zu Folge wird alles komplexer

Peris Vorgesetzte Gülbin (Tülin Özen) ist eine der Frauen, die sich ab und zu ins Junggesellenbett von Meryems Arbeitgeber legen. Gülbin zofft sich mit ihrer Schwester, die sehr konservativ ist.

Der Hodscha selbst hat eine lesbische Tochter. Sie und ihre Freundin werden von Meryems Bruder in seiner Funktion als Nachtclub-Rausschmeisser unerkannt aus einer WC-Kabine geprügelt. Der gleiche Bruder wiederum sucht bei Hodscha Trost wegen seiner schwer depressiven Frau.

Ein Mann und eine Frau liegen nebeneinander im Bett
Legende: Die Serie vernetzt sich immer mehr: Die Supervisorin von Peri hat eine Affäre mit Meryems Arbeitgeber. Netflix

Jede Menge verdrehter Schicksale


Acht Menschen, acht Schicksale und jede Menge verdrehter, entwirrter Klischees sorgen dafür, dass «Bir Başkadır» das Prinzip der klassischen Seifenoper subtil parodiert – und sich gleichzeitig daran orientiert.

Das führt zu mehreren Spannungsbögen, die es in sich haben. Fast alle werden zum Schluss genregerecht und leicht ironisch aufgelöst.
So schafft das Team um Autor und Regisseur Berkun Oya eine ganze Reihe von Überraschungen.

Es ist die Synthese von Arthaus-Kino und Seifenoper: Die Provokation der aufgeklärten urbanen Links-Intellektuellen und die Verärgerung konservativ-religiöser Kreise. Und es ist die Bereitstellung generationenübergreifender Debattieranlässe, nicht zuletzt bei den Auslandtürken.

Einblicke in andere Kulturen – dank Netflix

Ganz nebenbei macht der global wachsende Erfolg dieser Netflix-Serie einen überraschenden Globalisierungseffekt des Streaming-Dienstes sichtbar: Während das sogenannte «Weltkino» oft für Filmfestivals optimiert wird, schafft Netflix etwas Neues: den Einblick in andere Kulturen – dank dem Einkauf lokaler Produktionen, die für ein lokales Publikum gedreht wurden.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 11.02.2021, 8:06 Uhr

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