Die Tür geht auf. Wir folgen einer rothaarigen Schauspielerin, die das Set betritt. Die ganze Filmcrew ist wegen Corona maskiert. Kurz bevor die erste Klappe fällt, sehen wir die Hauptdarstellerin endlich von vorne: Es ist Arthouse-Darling Jessica Chastain.
Eine Drama-Serie mit Making-of-Bildern zu beginnen, so wie es Hagai Levis «Scenes of a Marriage» tut, ist sehr ungewöhnlich. Weil die Distanz zum Geschehen, die daraus resultiert, schlecht mit dem Hauptziel der meisten Dramen harmoniert: Das Publikum vergessen zu lassen, dass es sich bloss um ein Schauspiel handelt.
Umso beeindruckender ist es, wie rasch Chastains Spiel emotional zu fesseln vermag – in einem Rahmen, der einen ständig daran erinnert, auf der Reflexionsebene zu bleiben. Wie schon in Bergmans «Szenen einer Ehe» soll nicht nur mitgefühlt, sondern auch mitgedacht werden. Unter besonderer Berücksichtigung der Dinge, die unseren heutigen Alltag prägen.
Liebe zwischen Smartphones und Gendersternchen
«Ich untersuche, inwiefern moderne Gendernormen monogame Ehen beeinflussen», erklärt eine Forscherin den beiden Hauptfiguren in der ersten Szene. Woraufhin diese Jonathan (Oscar Isaac) und dessen Frau Mira (Jessica Chastain) um die Regelung der Formalitäten bittet: «Könnten Sie mir bitte ihre Pronomen bestätigen?»
«Er, ihm, sein», entgegnet der Akademiker Jonathan routiniert. Mira musste in ihrem Alltag die Genderfrage dagegen offensichtlich noch nie so direkt beantworten. «Sie …» stammelt die sonst so selbstbewusste Managerin zögerlich, bevor ihr Gatte Hilfe leistet: «Sie, ihr, ihres».
Im Laufe der Befragung erfahren wir beiläufig weitere Details zum Selbstverständnis des Paars: Er definiert sich – stark komprimiert – als «dozierender Demokrat und Asthmatiker jüdischen Glaubens». Ein Mann, der sich unter der Woche mehrheitlich ums Kind kümmert, während sie als «Top-Shot in der Tech-Branche» für den Broterwerb sorgt.
Gespiegelt, nicht kopiert
Cinephile wissen: Auch Bergmans Original begann mit einem Interview. Damals mussten die zwei Hauptfiguren Fragen für die Homestory einer Zeitschrift beantworten – als vermeintliches Musterehepaar.
1973 war der Gatte der dominante Pol: Sie fiel aus allen Wolken, als er wegen einer nicht enden wollenden Affäre die Trennung anstrebte.
2021 herrschen andere Machtverhältnisse: Nun geht sie fremd. Nun will sie als finanziell autarkes und sexuell selbstbestimmtes Individuum aus dem Korsett der Ehe ausbrechen.
Hagai Levis «Scenes from a Marriage» ist alles andere als eine vor Ehrfurcht erstarrte Neuinszenierung des Bergman-Klassikers. Es handelt sich vielmehr um eine kunstvolle Spiegelung, die der Erfinder, Autor und Regisseur der Erfolgsserie «In Treatment» hier vorlegt.
Erfreulicherweise trifft Levi mit seiner Umkehr der traditionellen Rollenmuster den aktuellen Zeitgeist fast so gut wie Bergman damals.
Schauspielerische Reifeprüfung
Das deutsche Feuilleton geht in seinem Lob sogar noch einen Schritt weiter. Man übertreibe nicht, wenn man Levi als den «zurzeit interessantesten Serienautor der Welt» bezeichne, liess die Frankfurter Allgemeine Zeitung kürzlich verlauten.
Nicht überall vorbehaltslos gefeiert wurden dagegen die schauspielerischen Darbietungen. Während Jessica Chastain dem Wechselspiel von Anziehung und Abstossung ständig neue Facetten abringen kann, wirkt Oscar Isaac manchmal etwas ausdrucksschwach. Fast so, als ob er sich die Überforderung seiner Figur einverleibt hätte.
Streaming-Start: 19. November 2021 auf Sky Show