Es gibt gute Gründe, Klassenzusammenkünfte zu meiden: Man sehnt sich nicht unbedingt nach Menschen, deren Gesellschaft man sich nie ausgesucht hat. Man befürchtet vielleicht, dass man immer noch für das unreife Schulkind gehalten wird, das man einst war. Womöglich erliegt man auch selbst der Täuschung, man würde dort von unreifen Schulkindern umringt.
Im Dokumentarfilm «Rückkehr nach Višegrad» mögen all diese Faktoren eine Rolle spielen, aber sie sind zweitrangig. Die betroffene Klasse aus Ostbosnien und Herzgowina wurde 1992 im vierten Primarschuljahr durch den Krieg getrennt. Plötzlich war die Schule aus, viele Familien flohen, es gab Tote, die meisten Kinder sahen sich seither nie wieder – und wollten das vielleicht auch gar nicht mehr.
Ein Duo filmt ein Duo
Eine Frau und ein Mann (die Schweizer Filmschaffenden Julie Biro und Antoine Jaccoud) filmen nun eine Frau und einen Mann dabei, wie sie sich anschicken, diese ehemaligen Klassenkameradinnen und Kameraden wieder zusammenzutrommeln: Die Witwe des Lehrers und der ehemalige Schulleiter steigen ins Auto und fahren los, ein altes Klassenfoto und eine Adresskartei im Gepäck.
Beide sind in die Jahre gekommen, Altersbeschwerden machen ihnen zu schaffen. Es wird im Film mehrmals deutlich, dass das mühselige Abklappern von Adressen an ihren Kräften zehrt.
Denn genau das machen die beiden jetzt: An Haustüren klingeln; sich verabreden in Büros und Kaffeehäusern; am Handy ein persönliches Treffen vorschlagen, um das aufgegleiste Projekt schmackhaft zu machen – manchmal erfolgreich, manchmal nicht.
Ein harziger Prozess
Diesen vorbereitenden Kontakt zu den einzelnen Mitgliedern der Schulklasse braucht es, soviel wird klar: Würde man diesen Menschen einfach eine Mail zukommen lassen, bliebe wohl fast alles unbeantwortet.
Jede einzelne Person muss vom Sinn der Aktion überzeugt werden. Der Prozess verläuft bisweilen harzig, und auch im Publikum fragt man sich in einigen Passagen des Mittelteils, ob man da wirklich dranbleiben will.
Aber das Dranbleiben lohnt sich: Man lernt lauter Menschen kennen, die völlig unterschiedlich auf das Angebot reagieren. Einige erinnern sich noch an alles. Starke Gefühle kommen hoch. Einige erinnern sich an nichts. Eine Ex-Schülerin bringt ihre Bedenken auf den Punkt: «Vielleicht gibt es auch Hass bei einem solchen Zusammentreffen. Wir wurden nicht gleich erzogen. Wir haben nicht das gleiche erlebt.»
Mit Humor und Hartnäckigkeit ans Ziel
«Rückkehr nach Višegrad» hätte ein episodenhafter, zerfaserter Film werden können, hätte er nicht zwei schlagende Herzen im Zentrum: Die Lehrerwitwe und der Ex-Schulleiter führen das Publikum mit Charme durch den ganzen Film. Ihr Engagement wirkt immer ansteckender, je länger diese Odyssee dauert. Mit überraschend viel Humor, mit Einfühlungsvermögen und mit einer nicht zu unterschätzenden Hartnäckigkeit verfolgen sie ihr Ziel.
Am Schluss steht erwartungsgemäss das alte Schulhaus, das alte Klassenzimmer. Aber wer trifft jetzt hier ein? Wie viele kommen? Wird dieses nicht ganz ungezwungene Wiedersehen herzerwärmend oder beklemmend peinlich? Auf das Kinopublikum wartet auf jeden Fall ein starkes emotionales Finale, das jede Minute wert ist, die es bis hierhin gedauert hat.