Das Wichtigste in Kürze:
- Der erfolgreiche Film von 1966 «Ursula oder das unwerte Leben» von Walter Marti und Rolf Lyssy entstand zufällig .
- Rolf Lyssy traf Ursulas Pflegemutter 46 Jahre später wieder – und wusste: Die Geschichte braucht eine Fortsetzung .
- Seine Arbeit mit Ursula Bodmer hat Lyssy gezeigt, dass Menschen Sinne haben, die über das Sehen, Sprechen und Hören hinausgehen .
SRF: «Ursula oder das unwerte Leben» feierte 1966 Premiere. Wie ist die Idee zum Film entstanden?
Rolf Lyssy: Angefangen hat es eigentlich mit etwas ganz Anderem: Der Dokumentarfilmer Walter Marti und ich waren dabei, einen Film über Zahnprophylaxe zu drehen. Da sagte Marti, er hätte Material, bei dem er nicht genau wisse, was er damit machen solle. Also hat er es mir gezeigt – und ich war fasziniert.
Die gefilmten Szenen zeigten die Rhythmik- und Heilpädagogin Mimi Scheiblauer bei ihrer Arbeit mit behinderten Kindern. Eines dieser Kinder war die taubblinde Ursula Bodmer. Sie ist mir sofort aufgefallen. Mir war klar: Daraus muss man einen Kinofilm machen!
Ich bin damals in der ganzen Schweiz umhergereist, um den Film anzubieten.
Wie kam der Film Mitte der 1960er-Jahre beim Publikum an?
Zur Premiere von «Ursula oder das unwerte Leben» im alten Kino Bellevue in Zürich kamen viele Leute. Die Verleiher, denen wir den Film im Anschluss gezeigt haben, waren weniger begeistert. Sie waren der Meinung, einen solchen Film wolle niemand sehen. Also haben wir «Ursula oder das unwerte Leben» den Kinos einfach selber verliehen. Ich bin damals in der ganzen Schweiz umhergereist, um den Film anzubieten.
Und das hat funktioniert?
Sogar unglaublich gut! Es hatte sich herumgesprochen, wie erfolgreich der Film in Zürich war. Plötzlich zeigte sich, wie viele Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, in der Familie, der Verwandtschaft oder im Beruf. Das war unser Publikum.
Für mich persönlich war es ebenfalls ein Gewinn: Dank des Verleihs kannten mich die Kinobesitzer und der finanzielle Erfolg des Film ermöglichte mir meinen ersten Spielfilm «Eugen heisst wohlgeboren». «Ursula oder das unwerte Leben» stand also am Anfang meiner Kinofilmkarriere.
In den Jahren nach «Eugen heisst wohlgeboren» haben Sie zahlreiche Spielfilme gedreht, unter anderem «Die Schweizermacher». Hatten Sie Kontakt mit Ursula oder ihrer Pflegemutter Anita Utzinger?
Lange Zeit hatten wir keinen Kontakt – bis im Jahr 2009, als mich Frau Utzinger anrief und sagte: «Grüezi Herr Lyssy, wissen Sie noch, wer ich bin?» und ich antwortete «Aber sicher!». Sie hat mich nach einer DVD des Films gefragt, die ich ihr eine Woche später gebracht habe. Da habe ich sie zum ersten Mal seit 46 Jahren wieder gesehen.
Das war wie ein Filmschnitt im Kopf: Ich hatte Frau Utzinger als eine Frau Mitte 30 im Gedächtnis – und plötzlich steht sie als 80-Jährige vor mir. Das Erste, was ich wissen wollte, war, ob Ursula noch lebt. Frau Utzinger bejahte – da wusste ich, dass ich die Geschichte weitererzählen muss.
Ich sage ja jeweils, der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile.
Im zweiten Film «Ursula – Leben in Anderswo» ist Ursula Bodmer gut 60 Jahre alt. Wie war das, 46 nach dem ersten Film mit den gleichen Protagonisten eine zweite Dokumentation zu drehen?
Es war wahnsinnig spannend. Und ich bin froh, dass ich den Film gemacht und die Geschichte weitererzählt habe. Deshalb wollte ich auch unbedingt Ausschnitte aus dem älteren Film drin haben – «Ursula – Leben in Anderswo» hat eine Geschichte, eine Wurzel.
Ich habe durch die beiden Filme einen Menschen kennengelernt, der einen zeigt, dass wir Sinne haben, die über das Sehen, Sprechen und Hören hinausgehen. Ich sage ja jeweils, der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile. Ursula beweist das.
Seit der Premiere 2012 sind knapp fünf Jahre vergangen. Wissen Sie, wie es Anita Utzinger und Ursula heute geht?
Ursula ist nach wie vor in einem Heim für taubblinde Menschen, sie ist ja auch schon 65 Jahre alt. Anita Utzinger ist mittlerweile im Rollstuhl, aber sie erträgt ihr Schicksal mit einer unglaublichen Gelassenheit. Ich bewundere diese Frau wirklich.
Die Fragen stellte Helen Stadlin.