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Schweizer Film in Cannes Migranten als Maskottchen der Mächtigen

Wenn hoher Besuch ins Geflüchtetenlager kommt: Der Schweizer Regisseur Lionel Baier spielt in seinem neuen Film «La dérive des continents» mit den Themen Migration und Migrationskrise.

«Das ist zu sauber hier. Habt ihr nichts anderes?» Der PR-Berater von Emmanuel Macron steht missmutig mitten in einem Geflüchtetenlager auf Sizilien. Es ist Frühling 2020. Frankreichs Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel haben ihren Besuch angekündigt.

Und dafür muss das Camp heruntergekommen aussehen. Denn erst durch den Besuch der zwei Staatsoberhäupter sollen die Zustände in dem Lager verbessert werden.

Den beiden PR-Beratenden aus Frankreich und aus Deutschland steht die EU-Beamtin Nathalie (Isabelle Carré) mit Rat und Tat zur Seite. Das PR-Team will unbedingt, dass Merkel und Macron von einer weiblichen Migrantin begrüsst werden. «Das wirkt einfach gleichberechtigter», sagt der Franzose (Tom Villa).

Zwei Frauen und ein Mann in Business-Kleidung stehen nebeneinander.
Legende: Die Schweizerin Ursina Lardi (rechts) spielt die PR-Beraterin von Angela Merkel. Bandita Films

Casting für passende Migrantinnen

Diese Wünsche wirken absurd, und bringen das Publikum an der Premiere des Schweizer Films «La dérive des continents (au sud)» am Filmfestival in Cannes immer wieder zum Lachen. Doch das Ganze ist nicht der Fantasie des Regisseurs Lionel Baier entsprungen.

Baier hat als Vorbereitung auf seinen Spielfilm mehrere Geflüchtetenlager in Griechenland und Italien besucht. «Verwundert hat mich das Verhalten der Medien», erzählt er im Interview. «Sie haben richtige Castings veranstaltet, um die passenden Migrantinnen und Migranten fürs Fernsehen zu finden.»

Eine Frau und ein junger Mann stehen im Gestrüpp und reden miteinander.
Legende: Nathalie (Isabelle Carré) muss sich nicht nur mit den PR-Menschen herumschlagen. Sondern auch mit ihrem Sohn, den sie jahrelang nicht gesehen hat. Bandita Films

Ein Blick hinter die Kulissen

Das bedeute für jedes Land etwas anderes. Österreich wolle beispielsweise Frauen mit Schleier. Aber nicht zu verschleiert, damit keine Terrorismus-Assoziationen geweckt werden.

Für Frankreich sollen es französischsprechende Menschen aus Afrika sein. Ihr Französisch dürfe jedoch nicht zu gut sein, da das Publikum sonst vermute, es handle sich um Schauspielerinnen und Schauspieler.

«Solche Dinge sieht man nicht in den News», sagt Regisseur Baier. «Deshalb wollte ich sie im Film zeigen.» Auch ihm wurde geraten, für seinen Film Castings zu veranstalten. Doch er lehnte ab. Alle Menschen aus den Camps durften in seinem Film Statistinnen und Statisten sein und wurden dafür auch bezahlt, sagt er.

PR – nicht nur mit schlechter Absicht

Politikerinnen und Politiker nutzen Auftritte wie den Besuch im Geflüchtetenlager immer wieder zu ihren Zwecken. Dafür wird einiges inszeniert.

«Da stecken nicht unbedingt schlechte Absichten dahinter», sagt Lionel Baier: «Zum Beispiel, wenn Ignazio Cassis in die Ukraine fliegt, dort Schokolade verteilt und davon Fotos gemacht werden. Trotzdem werden hier Menschen auf der Flucht benutzt, um die Aussenpolitik der Schweiz darzustellen.»

Das sei nicht per se schlecht. Man müsse sich aber bewusst sein, dass solche Bilder kein wahres Bild der Lage zeichnen.

Eine Frau geht von einer Menge an Schaulustigen weg.
Legende: Der Schweizer Filmdrama hat mit «La dérive des continents» einen würdigen Vertreter in Cannes. Bandita Films

«Hier ertrinken weiterhin Menschen»

Im Film werden die Menschen im Camp schliesslich von ihren Zimmern in Zelte umgesiedelt. Dreck wird auf dem Areal verteilt, um es verwahrloster aussehen zu lassen. Absurd, aber vielleicht doch nicht ganz abwegig.

Lionel Baier hat seine Geschichte vor der Corona-Pandemie angesiedelt. Diese hat die Menschen, die übers Mittelmeer flüchten, für viele in den Hintergrund gedrängt. «Während wir uns über Hygienemassnahmen unterhielten, ertranken weiterhin Menschen», sagt Lionel Baier und zeigt in Cannes aufs Meer.

Der Kinostart in der Deutschschweiz steht noch nicht fest.

SRF 1, Tagesschau, 23.05.2022, 19:30 Uhr

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