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Schweizer Filmpreis Doras sexuelle Befreiung beglückt und tut weh

12 Jahre nach Lukas Bärfuss‘ Theaterstück versetzt Stina Werenfels mit «Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern» die Geschichte um die geistig Behinderte Dora ins Jetzt. Der präzis konstruierte Film hat das, was Kino lebendig macht: Er geht ans Herz und schlägt auf den Magen.

Dora ist 18 Jahre alt, geistig behindert und körperlich am Erwachen, seit Mutter Kristin ihre Psychopharmaka abgesetzt hat. Das war wohl Doras Wunsch, aber Kristins Entscheidung. «Sie sind die Mutter», meinte der Arzt lapidar. Doras Vater findet die Medikamente im Küchenabfall, fragt kurz bei seiner Frau nach, ob sie das für eine gute Idee halte – und akzeptiert die Entscheidung seiner Frau.

Die Gesetzeslage hat sich verändert

Wenig später trifft Dora auf einen Mann, folgt ihm in die U-Bahn-Toilette. Peter begreift sofort, was Dora sucht. Auch wenn sie selber höchstens eine Ahnung davon hat und die faktische Vergewaltigung auf dem Fliesenboden nicht einordnen kann. Für Dora ist eine neue Welt aufgegangen und Peter ist der Mann, der zu dieser Welt gehört. Der Papa hatte zuvor ihren kindlichen Zungenkuss zurückgewiesen.

Stina Werenfels hat die Anlage des Theaterstücks von Lukas Bärfuss aufgefächert, weiter interpretiert und weiter entwickelt. Wie im Stück wird Dora schwanger und die Eltern veranlassen eine Abtreibung. Seit der Uraufführung von 2003 hat sich aber auch die Gesetzeslage in der Schweiz verändert. Dora ist heute mit ihren 18 Jahren nicht nur mündig, sondern auch so autonom. Die im Stück von der Mutter erzwungene Gebärmutterentfernung zur Verhinderung einer erneuten Schwangerschaft käme nicht mehr in Frage.

Der Gegenentwurf zu den sexuellen Neurosen der Eltern

Die Frage nach den möglichen Folgen der sexuellen Selbstbestimmung geistig Behinderter stellt sich heute also noch viel radikaler. Dora besteht darauf, dass Peter der Mann für sie sei. Und sie wird wieder schwanger.

Für Bärfuss war Dora das «starke, wilde Mädchen, das an seinen Träumen und seinem Begehren gegen alle Widerstände festhält», wie er sich in den Presseunterlagen zu Stina Werenfels‘ Film erinnert. Dora war die Revolution, der Gegenentwurf zu den «sexuellen Neurosen unserer Eltern». Sie verkörperte die von moralischen Bedenken befreite Sexualität, und das schenkte dem Stück einen utopischen Impetus, der einen fröhlich zerrissen aus dem Theater entliess. Da waren wir, die Theaterzuschauer. Da war Dora. Und da waren die sexuellen Neurosen unserer Eltern.

Der Tochter gelingt, was sich die Mutter wünscht

Heute, zwölf Jahre später, mit Stina Werenfels und mit ihrer von Victoria Schulz hinreissend gespielten Dora, sind wir die Eltern. Im Zentrum des Films steht zunehmend zerrissen die Mutter (Jenny Schily). Es sind nicht nur die wesentlichen Entscheidungen, die von den Männern (dem Arzt, dem Ehemann) ihr überlassen werden, sondern auch die unlösbaren Fragen.

Denn Kristin versucht seit Jahren mit Hormontherapien noch einmal schwanger zu werden. Sie wünscht sich ein zweites Kind, ein «richtiges», auch wenn sie das nie so formulieren würde. Und was ihr nicht mehr gelingt, gelingt dafür ihrer Tochter umso gründlicher – und unerwünschter.

Rechtlich unangreifbar

Schweizer Filmpreis

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Am 13. März vergibt das Bundesamt für Kultur zum 18. Mal den Schweizer Filmpreis. «Dora» ist in vier Kategorien nominiert, unter anderem als «Bester Spielfilm». SRF überträgt die Preisverleihung im Live-Stream .

Der Ablösungskrampf zwischen Tochter und Mutter ist die eigentliche grosse Wunde in diesem Film. Entsprechend reduziert und funktional stehen die Männer diesen Frauen gegenüber. Urs Jucker als Vater von Dora ist liebevoll und geduldig und im entscheidenden Moment mindestens so brutal wie der von Lars Eidinger gespielte Peter: Seiner vor Erschöpfung und Verzweiflung nur noch heulenden Frau schleudert Doras Vater entgegen, es gebe nichts hässlicheres auf der Welt, als eine eifersüchtige Mutter. Eidinger als Peter dagegen verkörpert zunächst eher ein Prinzip als einen Menschen: Er weiss sich rechtlich unangreifbar, ist sich Doras fast bedingungsloser Verfügbarkeit sicher und lässt die besorgten Eltern wieder und wieder eiskalt auflaufen.

Filmsequenzen, die wirklich weh tun

Dora weiss nicht immer genau, was sie sucht. Aber sie weiss genau, wenn sie etwas nicht möchte. Zunge im Ohr mag sie nicht und das sagt sie auch. Sie gibt sich dem Mann nicht «hin», sondern der Lust und der Entdeckung und ihren eigenen Träumen. Für Peter, der keine mehr zu haben scheint, ist das vielleicht die entscheidende Eigenschaft Doras, die schliesslich auch einen Rest seiner Menschlichkeit weckt. Jedenfalls schickt Peter seinen Kumpel wieder weg, bevor sich der wie vereinbart tatsächlich an Dora vergreift. Und es gibt eine wunderbare Kickboxtanz-Szene im Wald mit Autoradio-Soundtrack und zwei zumindest momentan befreiten Menschen in einer Lichtung.

Stina Werenfels hat ihren Film sehr präzise konstruiert. Er ist 90 Minuten lang und exakt nach 45 Minuten ist Dora sexuell und juristisch frei und selbstbestimmt. Aus den «was wäre wenn»-Überlegungen der ersten Filmhälfte werden konkrete Probleme. Dabei fordert der Mut der Filmemacherin Respekt. Es gibt Sequenzen in diesem Film, die wirklich weh tun. Und dies, je nachdem, wo ich mich als Zuschauer selber verorte, heftig oder heftiger.

Echtes Drama mag Komik

Eine Frau sitzt angestrengt nachdenkend am Tisch, neben ihr die Tochter, sie ansehend.
Legende: Die eigentliche grosse Wunde in diesem Film: Die Befreiung der Tochter wird zum Drama der Mutter. Dschoint Ventschr

Es wird zweifellos Leute geben, welche sich auf der einen oder anderen Ebene in diesen Film verbeissen müssen – oder sich ihm verweigern. Doras erste sexuelle Erfahrung mit Peter auf der Toilette ist objektiv gesehen eine Vergewaltigung. Da sie aber etwas gesucht hat, von dem sie nicht wusste, was es sein würde, fühlt sie sich trotz blauer Flecken nicht vergewaltigt. Irgendetwas hat ihr gefallen, sie will mehr davon. Das läuft als Darstellung allen geltenden moralischen Standards zuwider – und ist gleichzeitig absolut nachvollziehbar.

Echtes Drama mag Komik, und Stina Werenfels hat nicht nur den Mut, sondern auch das Gespür dafür. Wenn der Arzt den Eltern angesichts Doras zweiter Schwangerschaft einen genetischen Test empfiehlt, um allenfalls über eine Abtreibung zu entscheiden, ist Dora dabei. Sie versteht seinen Satz «dann können wir wählen» ganz unverblümt wörtlich. In diesem Fall wolle sie «kein Mongo wie Sarah». Worauf der Arzt wütend wird. Doras Erstaunen darüber teilt sie wohl mit dem denkenden Teil des Kinopublikums.

Etwas, das sich nicht so leicht abschütteln lässt

Lukas Bärfuss‘ Stück löste damals durchaus ambivalente Gefühle aus im Publikum. Schliesslich aber überwog die utopisch-befreiende Komponente, die Idee der (nicht nur) sexuellen Selbstbestimmtheit eines eben nicht neurotischen Wesens. Ich erinnere mich, das Theater in Basel beschwingt und erfreut verlassen zu haben.

Stina Werenfels‘ Film lässt einen ähnlich wie bei Lukas Bärfuss‘ Stück mit ambivalenten, aber beschwingten Gefühlen die Vorführung verlassen. Der Film legt mir aber zugleich mehr auf die Seele, das sich nicht so leicht abschütteln lässt. Die wirklich grosse Leistung bei diesem Film besteht darin, dass ihm zwar eine unglaublich kluge, konsequent durchdachte Auslegeordnung zugrunde liegt. Darüber und darunter aber liegt Kino, da sind Bilder und Momente, die unmittelbar ans Herz gehen, auf den Magen schlagen, einem ein Lachen oder ein Lächeln abnötigen. Und erst damit wird ein Film lebendig.

Kunstwerk mit hoher Lebenserwartung

SRF-Koproduktion

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Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) hat diesen Film koproduziert .

Und damit ist noch gar nichts gesagt über Rhythmus, Bildgestaltung, Schnitt oder Dramaturgie. Die handwerkliche Sorgfalt und Präzision entspricht der konzeptionellen. Die Leistung der Schauspielerinnen, insbesondere der jungen Victoria Schulz, ist beeindruckend. Auch darum, weil bei allen Darstellern Zurückhaltung die Basis bildet. Und dann gibt es Einstellungen, die sind pures beglückendes Kino, etwa der Blick auf die strahlende Dora im roten Kleid durch eine Seifenblase.

«Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern» ist ein Kunstwerk mit hoher Lebenserwartung. Ähnlich wie bei Stina Werenfels‘ erstem Kino-Langspielfilm «Nachbeben» von 2006 wird sich in den kommenden Jahren die Nachwirkzeit ihrer sorgfältigen Arbeit bestätigen.

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