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Solothurner Filmtage «Das Boot ist voll» – die Grüninger-Debatte in der Schweiz

Vergangenheitsbewältigung braucht Zeit, auch in einer Demokratie. Für Markus Imhoofs Film «Das Boot ist voll» gab es 1981 wenig Verständnis. Sein kritischer Blick auf die Schweizer Flüchtlingspolitik sorgte für rote Köpfe. Erst Spielberg machte 1993 das Thema mit «Schindler‘s List» salonfähig.

Paul Grüninger war ab 1925 Polizeikommandant von St. Gallen. 1939 wurde er seines Amtes enthoben, fristlos entlassen und im Jahr darauf verurteilt wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung. Er hatte weiterhin Menschen in die Schweiz gelassen, nachdem der Bundesrat am 19. August 1938 die Schliessung der Grenze für Flüchtlinge aus dem Dritten Reich angeordnet hatte. Und für viele dieser Flüchtlinge hat Grüninger Papiere ausstellen lassen, die den Grenzübertritt vordatierten in die Zeit, in der sie noch legal hätten einreisen können.

Video
Leben an der Grenze: Mathias Gnädinger in «Das Boot ist voll» (Ausschnitt)
Aus Kultur Extras vom 03.07.2013.
abspielen. Laufzeit 33 Sekunden.

«Das Boot ist voll»

Dass die gezielte Schweizer Grenzschliessung von 1938 für unzählige Juden einem Todesurteil nahe kam, stand im Zentrum einer Debatte, welche in der Schweiz lange überhaupt nicht geführt wurde. Als Alfred A. Häsler 1967 sein Buch «Das Boot ist voll. Die Flüchtlingspolitik der Schweiz 1933–1945» herausbrachte, stiess er damit nicht auf Begeisterung. Und als Markus Imhoof 1981 seinen auf Häslers Buch basierenden Spielfilm «Das Boot ist voll» mit Mathias Gnädinger ins Kino brachte, wurde er als Nestbeschmutzer beschimpft.

Vergangenheitsbewältigung braucht Zeit, auch in einer Demokratie. 1993 machte Steven Spielberg das Thema mit «Schindler‘s List» salonfähig, im gleichen Jahr erschien vom Schweizer Historiker Stefan Keller das Buch «Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe».

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Grüningers Fall – DOK von Richard Dindo
Aus SRF WISSEN vom 20.11.1997.
abspielen. Laufzeit 53 Minuten 47 Sekunden.

Streit um Fall Grüninger dauert an

1997 basierte Richard Dindo seinen Dokumentarfilm «Grüningers Fall» auf Kellers Arbeit, und in der Schweizerischen Öffentlichkeit wich der Vorwurf der Nestbeschmutzung langsam dem Bedürfnis nach einem «Gerechten», nach einer Oskar-Schindler-ähnlichen Figur, um das kollektive schlechte Gewissen wenigstens ansatzweise zu entlasten.

Damit waren die Kontroversen aber noch lange nicht ausgestanden, linke und rechte Parteien streiten bis heute über Grüningers tatsächliche Bedeutung und Motivation. Es gibt dabei sehr dissidente Stimmen wie etwa den israelisch-schweizerischen Journalisten Shraga Elam, der Paul Grüninger einigermassen überraschend und unumwunden als Nazi-Sympathisanten und Profiteur darstellt. Zwar wurden die meisten seiner Quellen-Interpretationen und Archivbelege unterdessen von der Gegenseite widerlegt, je weiter zurück allerdings die Ereignisse rücken, desto weniger effektive Zeitzeugen stehen überhaupt noch zur Verfügung.

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