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Solothurner Filmtage Drehbuchautor Lange: «Grüninger wirft brandaktuelle Fragen auf»

Bernd Langes «Akte Grüninger» ist kein Dokfilm über das Leben des Polizisten und Flüchtlingshelfers im Zweiten Weltkrieg, sondern ein Spielfilm mit fiktionalen Elementen. Wie er es geschafft hat, die richtige Balance zwischen Geschichtsaufarbeitung und Fiktion zu finden, erklärt Lange im Interview.

Der Fall Grüninger beschäftigt die Schweiz seit Jahrzehnten – nicht nur auf juristischer Ebene. Wie macht man aus dieser Materie, die vermeintlich jeder kennt, einen spannenden Kinofilm?

Bernd Lange: Ich kannte Paul Grüninger nicht. Darum habe ich mich dem ganzen Thema sehr vorsichtig genähert. Bei der Suche nach einem umfassenden Bild war der Dokumentarfilm «Grüningers Fall» von Richard Dindo aus dem Jahr 1997 sehr hilfreich. Genauso die Sachbücher von Jörg Krummenacher, Wulff Bickenbach und nicht zuletzt Stefan Keller, der mir als historischer Berater zur Seite stand. Auch Grüningers Tochter Ruth Roduner habe ich getroffen. Sie konnte mir lebhafte Eindrücke von ihrem Vater vermitteln.

Der Menschenfreund Paul Grüninger war ein Mann ohne Widersprüche, mit klaren Ansichten. Das macht eine Dramatisierung seiner Figur tatsächlich schwierig. Gemeinsam mit Regisseur Alain Gsponer habe ich mich darum für eine Erzählung der Geschichte durch die Augen einer Figur voller Widersprüche entschieden.

Zur Person

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Porträt

1974 geboren, gehört Bernd Lange zu den bekanntesten Drehbuchautoren Deutschlands, Kurz nach seinem Abschluss an der Filmakademie Baden-Württemberg sorgen seine feinsinnigen Scripts für Aufsehen. Gefeiert wurde er für die Drehbücher von Hans-Christian Schmids Filmen«Requiem» (2006), «Sturm» (2009) und «Was bleibt» (2012).

Sie sprechen von Polizei-Inspektor Robert Frei, der von Max Simonischek gespielt wird.

Richtig. Es gibt eine schmale Lücke in Grüningers Biographie: Wer ihn verraten hat, darüber herrscht auch unter Historikern kein Konsens. Manche sagen, die jüdische Gemeinde, andere schieben die Schuld den Sozialdemokraten zu. In diese Lücke haben wir die fiktive Figur Robert Frei platziert.

Paul Grüninger hatte all seine Entscheide immer schon gefällt, bevor sie anstehen: Indem er sich für eine moralische Geradlinigkeit entschieden hat, die er konsequent lebt – mehr oder weniger bis zu seinem Tod. Robert Frei dagegen ist zu Beginn recht unentschlossen und möchte wissen, was an der Grenze vor sich geht. Er bietet dem Publikum die Möglichkeit, sich zu identifizieren – im Spiegel zu Grüninger. Was würde ich tun, wenn ich jemandem wie Grüninger begegne? Und wie würde mich eine solche Begegnung verändern? Der Zuschauer hat dank ihm die Möglichkeit, die Zusammenhänge zu entdecken.

Fiktionale Elemente wie die Figur Robert Frei helfen der Erzählung auf die Sprünge, bieten aber auch Angriffsfläche. Im Pressetext des Verleihers steht in diesem Kontext: «Fiktionale Elemente werden dabei stets so eingesetzt, dass sie Handlung und Figuren authentischer erscheinen lassen, die realen Geschehnisse aber nie verzerren.» Das klingt allzu glatt, allzu einfach. Ich stelle mir die Arbeit am Drehbuch als eine schwierige Gratwanderung zwischen Geschichtsaufarbeitung und Fiktion vor ...

Mann in grauem Anzug, schwarzem Hut und schwarzen Handschuhen.
Legende: Die fiktive Figur: Inspektor Robert Frei, gespielt von Max Simonischek. SRF/Daniel Ammann

Wenn man sich beispielsweise die Faktenlage genau anschaut, stellt man fest, dass die meisten Vorkommnisse im Fall Grüninger schriftlich verhandelt wurden. Kein Mensch kann mit Gewissheit sagen, ob und was Grüninger mit Personen wie Nationalrat Valentin Keel oder Fremdenpolizei-Chef Heinrich Rothmund mündlich verhandelt hat.

Wenn man jetzt aber nur den Briefwechsel zeigen würde, käme es auf der Leinwand zu keiner echten Begegnung. Die Schauspieler wären nicht einmal im selben Raum. Auf einer solchen Basis kann natürlich kein vernünftiger Spielfilm entstehen.

Für einen Spielfilm muss man die Dinge erlebbar machen. Deshalb begegnen sich die Menschen in unserem Film, anstelle von Briefen gibt es Dialoge. Wenn man sich dafür entscheidet, einen Briefwechsel in eine Begegnung umzuwandeln, fällt man jedoch eine Entscheidung zugunsten der Fiktion.

Schon im Vorfeld der Solothurner Filmtage hat die «Akte Grüninger» heftige Reaktionen provoziert. Ist der Film für Sie mit Blick auf die aktuelle Masseneinwanderungs-Initiative auch Träger einer politischen Botschaft?

Paul Grüninger

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Polizeikommandant Paul Grüninger hat im Zweiten Weltkrieg Hunderten von Juden das Leben gerettet. Weil er mit der Aufnahme von Flüchtlingen gegen die Weisung des Bundesrats verstiess, wurde er fristlos entlassen. Die Rehabilitierung durch das St. Galler Bezirksgericht folgte erst 1993, über 20 Jahre nach seinem Tod.

Sehr wohl. Und um Ihnen noch eine Schlagzeile zu liefern: Die Konferenz von Evian ist eine Sauerei! Damals, im Juli 1938, legten die teilnehmenden Staaten ihre geringe Bereitschaft offen, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen. Das restriktive Verhalten der Schweizer Regierung wurde durch diese Konferenz erst ermöglicht und natürlich auch ein Stück weit legitimiert.

Ich finde Paul Grüninger wahnsinnig interessant, weil er Fragen aufwirft, die heute noch aktuell sind. Wie verhalten wir uns zu unseren Grenzen? Und wie gehen wir mit Flüchtlingen um?

Paul Grüninger hatte ein ungebrochen offenes Verhältnis zu diesen Grenzen gepflegt. Aus humanitären Gründen liess er immer wieder Menschen in die Schweiz, egal wie die gesetzliche Lage war. Wir leben heute zwar nicht mehr in der Festung Schweiz, dafür aber in der Festung Europa. Auch heute müssen wir uns fragen: Können wir es uns in der privilegierten Situation, in der wir leben, wirklich nicht leisten, Flüchtlinge nach humanitären Kriterien und ohne willkürlich festgelegte Zulassungsbeschränkungen aufzunehmen?

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