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Das Filmplakat des Films «Disco And Atomic War».
Legende: Der Film geht humorvoll mit einem ernsten Thema um: das Plakat von «Disco And Atomic War». zvg

TV-Serien: Kult und Kultur Der Krieg der Fernseh-Antennen

Einst tobte über der Ostsee ein stiller Kampf: In den 50er Jahren sendete das estnische Fernsehen Bilder von glücklichen Arbeitern nach Norden. Dem warf das finnische Fernsehen «Dallas» und «Emmanuelle» entgegen. Jaak Kilmis Film «Disco And Atomic War» zeichnet humorvoll die Schlacht im Äther nach.

Ab 1955 sendete das Estnische Fernsehen ein finnischsprachiges Programm, um das kapitalistische System im Ausland zu untergraben: Aufnahmen von glücklichen Sowjetarbeitern sollten den vom Dollar unterjochten Menschen die Segnungen des Kommunismus näherbringen. Westliche Geheimdienste befürchteten, Finnland an die Sowjetunion zu verlieren.

Wettsenden statt Wettrüsten

Die US-Botschaft in Helsinki regte deshalb an, die Propaganda aus dem roten Süden mit eigener Funkleistung zu kontern. 1957 nahm das finnische Fernsehen den Sendebetrieb auf. Es begann ein «Krieg der Sendemasten» über die Ostsee hinweg.

Der estnische Filmer Jaak Kilmi zeichnet in seinem Dokumentarfilm «Disco And Atomic War» (2010) diesen Kampf um die Vorherrschaft im Äther nach, von den Fünfzigerjahren bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Kilmis 78-Minuten-Film ist auch eine Geschichte von der Wichtigkeit der «soft power», des Einflusses der Kultur- und Unterhaltungsindustrie auf andere Länder und Systeme.

Humorvolle Darstellung eines ernsten Themas

Trotz der weltpolitischen Risiken und der Kriegsgefahr jener Zeit des Wettrüstens wirkt Kilmis Film sehr heiter. Nicht nur aus der westlichen Perspektive. Die Achtzigerjahre, als er selbst Teenager war, habe er in Estland als erheiternd empfunden, sagt Jaak Kilmi: «Ich empfinde den Film als lustig. Die Sowjet-Zeit war eine lustige Zeit. Denn wenn um einen herum alles absurd ist, ist es lustig. In den Fünfzigerjahren, während des Stalin-Regimes, konnte man aus Angst keine Witze über das System reissen. Aber ab den Sechzigern, zur Zeit Breschnews, war die Ideologie so verfault, dass man Witze machen musste , um nicht überzuschnappen.»

Ein Foto des estnischen Filmemachers Jaak Kilmi.
Legende: Als der Eiserne Vorhang fiel, war der estnische Filmer Jaak Kilmi 18 Jahre alt. zVg

Humor als Waffe gegen ein System, dessen Ideologie sich überlebt hatte. Doch vor lauter Lachen darf man die Hintergründe nicht ausblenden. Der Krieg der Systeme fand zwischen Finnland und Estland als Medienkrieg statt.

Disco bezwingt den Eisernen Vorhang

Diese Auseinandersetzung der Funkwellen gewann schliesslich der Westen. 1975 verpflichtete sich die Sowjetunion im Helsinki-Abkommen unter anderem, die finnischen TV-Programme nicht mehr zu stören, die über die Ostsee ausgestrahlt wurden. Die Idee, in der Ostsee ein hundert Meter hohes Metallgitter zur Störung der feindlichen Funksignale zu errichten, verschwand endgültig in der Schublade. Disco, die «westliche Tanzkrankheit, die sich epidemisch ausbreitet», zog die estnische Jugend mehr an als die Volkstänze und Trachten, die das Estnische Fernsehen in die Schlacht warf.

«Disco And Atomic War»

«Dallas», «Dynasty» und Jaak Kilmis damalige Lieblingsserie «Knight Rider» versammelten halb Estland vor dem Fernsehapparat. Verwandte aus dem Süden reisten zum Fernsehen an, zu Sendungen, die sie selbst nicht empfangen konnten.  Die Geschicke von Sue Ellen und J.R. waren Familiengespräch, erinnert sich Jaak Kilmi: «Alle schauten finnisches Fernsehen. 'Dallas' war ein Familiending. Wenn Verwandte aus Süd-Estland kamen, war das ein grosses Familientreffen. Bei solchen Gelegenheiten sprachen meine Eltern über Sue Ellen und J.R. und über den guten Jungen, Bobby. Besonders 'Dallas' verlieh der Sowjetrealität eine andere Dimension. Niemand sprach über die langweiligen Sowjetthemen. Mit Freunden unterhielten sich meine Eltern über 'Dallas' und 'Dynasty'. Das war das wahre Ding. Die amerikanische TV-Realität ersetzte in gewissem Sinn die graue Sowjetrealität. Die Leute wollten lieber an die US-Realität glauben als an die sowjetische Wirklichkeit.»

Verwandtenbesuch dank «Emmanuelle»

Kilmis Film «Disco And Atomic War» geizt nicht mit humorigen Szenen: Wie plötzlich in ganz Estland ein Mangel an Fieberthermometern ausbricht, weil sich aus diesem Gerät leicht TV-Antennen bauen lassen. Wie plötzlich mehr als hundert Autos auf dem Schulsportplatz parkiert sind, weil am Abend im Westfernsehen «Emmanuelle» läuft. Wie der Kommunistische Jugendverband den Discotanz infiltrieren will.

Oder diese Sprachbeobachtung: Ein russischer Sprecher überspricht im Echtzeitverfahren finnische Fernsehsendungen. Die Videokassetten verbreiten sich dann aus Estland in die ganze Sowjetunion.

Ein «bisschen Freiheit» reicht nicht

Mit Gorbatschows «Glasnost»-Politik sei dieses marode System schliesslich zusammengebrochen, konstatiert Kilmi: Die Ideologie sei bloss noch Fassade gewesen. Der Staat habe Unsummen für den Krieg der Sterne verschwendet und Versorgungslücken nicht mehr stopfen können. Plötzlich hätten sich die Leute getraut, ihre Meinung auszusprechen, sagt Jaak Kilmi, damals 18 Jahre alt. «Gorbatschow hat das Fenster ein Stück weit geöffnet. Aber wenn man ein bisschen frische Luft geatmet hat, reicht das nicht mehr aus. Dann will man völlige Freiheit.» Und so kam es.

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