Ich bin ein Handbuch-Leser. Viele von euch wahrscheinlich nicht, aber genau deshalb müsst ihr immer Leute wie mich um Hilfe bitten, wenn irgendein Gerät mal wieder nicht das macht, was ihr so locker und intuitiv erwartet hattet.
Handbuch-Leserinnen wie ich kommen bei «Shenzhen I/O» jedenfalls voll auf ihre Kosten: Damit wir das Game überhaupt spielen können, müssen wir nämlich ein Handbuch lesen.
Denn wir schlüpfen in die Rolle eines Elektroingenieurs, der soeben in die Elektronikhauptstadt der Welt nach Shenzhen gezogen ist. Und nun für Shenzhen Longteng Electronics Co. Ltd. Produkte entwickeln soll.
Und zwar fast wie echt: Wir kaufen Bauteile ein, wie etwa den MC4000 High Performance Microcontroller. Diese Bauteile setzen wir auf eine Platine und verbinden sie mit Leiterbahnen. Und dann programmieren wir sie, damit sie genau das machen, was uns als Aufgabe gestellt wurde.
«Programmieren» ist hier keineswegs im übertragenen Sinn gemeint: Nein, wir müssen tatsächlich eine einfache Programmiersprache lernen. Und dazu eben das Handbuch lesen, mit «Application Notes», «Language Reference» und «Parts Datasheets».
Die Aufträge bekommen wir per fiktiver E-Mails. Wir fangen damit an, zwei LEDs in einer gefälschten Überwachungskamera zum Blinken zu bringen und bauen dann immer komplexere Schaltungen. Über die E-Mails lernen wir die verschiedenen Mitarbeiter und Scheffs der Firma kennen.
Langsam zeichnet sich auch eine durchaus spannende Geschichte ab. Damit wir uns gut konzentrieren können, erklingt angenehm sphärische Musik. Und wenn wir mal festhängen, entspannen wir uns bei einem Spielchen Solitaire – eine äusserst knifflige Variante, welche die Tochter unseres Chefs programmiert haben soll.
«Shenzhen I/O» ist aus den folgenden Gründen grossartig:
- Entwickler Zachary Barth von Zachtronics ist ein Genie. Sein «SpaceChem» habe ich geliebt. Und mit «Infiniminer» hat er das Game gemacht, das dann den Superhit «Minecraft» inspiriert hat.
- Die Aufträge in «Shenzhen I/O» sind perfekte Rätsel: Alles, was wir für die Lösung brauchen, liegt offen vor uns. Nichts ist versteckt, keine falschen Fährten lenken uns ab. Die Aufgaben bauen schön langsam auf einander auf und bringen uns immer wieder Neues bei. Wenn etwas die Lösung verhindert, ist es immer dein Hirn.
- Haben wir eine Aufgabe gelöst, zeigt uns das Game nicht nur an, wie viel Strom unsere Schaltung verbraucht, was sie kostet und wie viele Zeilen Programmcode wir schreiben mussten – sondern auch, ob es andere Gamer eleganter hingekriegt haben. Das weckt sofort unseren Ehrgeiz, eine noch elegantere Lösung zu suchen. Was häufig äusserst anspruchsvoll ist, den Schwierigkeitsgrad wählen wir dann aber immer selber.
- Für jede Aufgabe finden sich Lösungen im Internet. Bei anderen Rätselspielen nimmt Nachschauen komplett den Reiz. Hier nicht: Denn wir lernen von anderen, stossen auf ganz neue Strategien, die wir dann später selber anwenden lernen. Hier fühlt sich also «cheaten» nicht wie «cheaten» an, sondern wie weiterbilden.
- Das Thema ist hochinteressant, weil es uns ein Gefühl für die Stadt gibt, aus der im richtigen Leben fast alle unsere Geräte kommen. Die Texte im Spiel sind mit feinem Humor geschrieben, vieles wird bloss angedeutet.
- Zwar ist «Shenzhen I/O» fast wie arbeiten – schliesslich lesen wir E-Mails und erfüllen Aufträge. Wir erhalten einfach keinen Lohn. Doch es ist gerade genug Humor, Geschichte und Rätselehrgeiz im Spiel, dass es sich noch wie ein Spiel anfühlt.
- Das Handbuch zum Ausdrucken und zusammenbasteln ist grossartig. Denn es ist nicht ein Handbuch für das Spiel, sondern aus dem Spiel. Also ein Wirklichkeit gewordener Game-Gegenstand. Das macht die Fantasie glaubwürdig, weil wir diesen sonst immer virtuellen Gegenstand hier physisch in der Hand halten.
Das alles geniesst du aber nur, wenn du RTFM , Baby. Bist du zu schwach für das Handbuch, ist «Shenzhen I/O» zu hart für dich. Challenge accepted!? Ich lege es dir ans Herz.
«Shenzhen I/O» ist für Windows PC, macOS und Linux und kostet 15 Franken.