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Die etwas andere Rede zum 1. August
Aus Kultur Webvideos vom 31.07.2022.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 19 Sekunden.
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1. August-Rede Helvetia im Co-Working-Space

Christoph Simon schlüpft in die Rolle der Helvetia und hält im Co-Working-Space Schweiz eine Apéro-Ansprache – nur kurz.

Christoph Simon

Christoph Simon

Autor und Kabarettist

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Christoph Simon ist Gewinner des Salzburger Stiers 2018 und zweifacher Schweizer Meister im Poetry Slam. Seine Romane und Texte sind in neun Sprachen übersetzt und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden. Zurzeit ist Simon unterwegs mit seinem Solo-Bühnenprogramm «Der Suboptimist».

Liebe alle

Nur kurz. Heute ist mein Geburtstag. Ich möchte dies mit einem kleinen Apéro feiern.

Für diejenigen unter euch, die mich bisher nicht bemerkt haben: Mein Name ist Helvetia. Ich bin die Alte im Backoffice, die euch die Plätze im Co-Working-Space zuweist und überall die nervigen Zettel hinklebt: «Bitte Papier nachfüllen», «Bitte abends Licht löschen», «Bitte Flipchart eigenverantwortlich zurück in den Meetingraum bringen».

Ich bin die mit dem zerfurchten Gesicht wie die Eigernordwand. Ich habe mehr amerikanische Präsidenten kommen und gehen sehen als Königin Elisabeth. Das sieht man mir an. Wollte ich jung und chic scheinen, würde ich mir die Falten nach hinten ziehen und sie hinter den Ohren festtackern. Will ich aber nicht. Ich bin stolz auf mein Alter.

Unseren Co-Working-Space habe ich mitgegründet. Anfänglich hiess er Genossenschaft. Ein eingeschworener Haufen war das damals: Ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not und Gefahr zu trennen. Heute nehmen wir das mit der Einigkeit vielleicht ein wenig lockerer, aber ein eingeschworener Haufen sind wir weiterhin.

Ihr seid Workaholics und Ausserbetriebgefallene, Kreative mit Hinter- und Unkreative ohne Gedanken.

Die letzten zwei Jahre haben bewiesen, dass wir uns in schwierigen Situationen aufeinander verlassen können: In der Pandemie haben wir einander die Kulturtechnik des Maskentragens beigebracht (das einhändige Maskenanziehen, das antibrillenbeschlagende Maskentragen, der einohrige Snack-Maskenhänger). Und seit dem 24. Februar sind wir zusammengerückt und teilen unseren Space mit Geflüchteten.

Ihr seid Ausgebildete und Auszubildende, Angestellte und Freiberuflerinnen, Start-ups und Traditionsunternehmen, digitale Nomaden und analog Vertriebene, Sieger und Besiegte, Gewinnerinnen und Verlierer, Workaholics und Ausserbetriebgefallene, Kreative mit Hinter- und Unkreative ohne Gedanken. Ihr tut, was ihr tut, im Dienst des internen und externen Wirtschaftskreislaufs.

Ihr verfolgt eure persönlichen Ziele und nutzt dabei die gemeinsame Infrastruktur: Arbeitsplätze, WLAN, Drucker, Scanner, Beamer, Besprechungszimmer, Lounges, Fahrradeinstellhalle, Dachterrasse, Seesicht, Bergsicht. Von Meersicht ist unser Co-Working-Space ein grosses Stück entfernt. Was vielleicht den Spassfaktor senkt, aber auch etwas Druck wegnimmt. Ist es nicht so? Der Druck, Spass haben zu müssen, kann einem die gesamten Ferien am Meer verleiden.

Den einen geht es ums Working, anderen um den Space, dritten ums Co-.

«Bitte gebrauchte Kaffeetasse in den Geschirrspüler stellen.» Ich weiss: Die einen wünschen sich mehr Zettel, die anderen weniger. Die einen kommen hierher, um sozial stimuliert zu werden, die anderen träumen davon, Ebene um Ebene hinzuzumieten, um sie dann menschenfrei allein bevölkern zu können. Die einen machen nie Pause, weil sie Pausen gefährlich finden. Die anderen kommen gar nicht von der Dachterrasse runter.

Die einen beherrschen die seltene Kunst, von der Selbstverantwortung positiv zu reden, die anderen fordern dauernd irgendwas. Vom Backoffice, von der Administration, vom Platznachbarn, von der Putzequipe aus internationalen Spitzenkräften.

Den einen geht es ums Working, anderen um den Space, dritten ums Co-. Die einen wollen Mitbestimmung bei der Hausordnung, die anderen sind froh, wenn sie ihre Stimme delegieren können. Die einen wünschen sich einen Massagestuhl, die anderen Fussbäder unter dem Schreibtisch. Und mir bleibt die undankbare Aufgabe zu fragen, wer das bezahlen soll.

Ich gebe zu, dass mir das alles manchmal zu viel wird. Manchmal bin ich erschöpft. Dann würde ich den Laden am liebsten an den Meistbietenden verkaufen und meine Zeit damit verbringen, an historische Ausstellungen zu gehen. Ich kenne die Grenzen meiner Empfänglichkeit und Kraft. Hilfsbereitschaft erledige ich gern per Einzahlungsschein.

Der aufrechte Gang ist eine Risikosportart.

Meine Widerstandsfähigkeit ist eine knappe Ressource. Meine Ausbrüche an Fantasie und Lebensfreude spare ich mir auf für den richtigen Moment. Mein Mut, das gebe ich zu, kapituliert vor dem Ruf nach einer nicht neutralen Waffenlieferung.

Ja, unvorhergesehene Ereignisse dämpfen meine Abenteuerlust. Wenn der Rauch von ferner Kriegsartillerie den Tag verfinstert, taste ich mich halbblind vorwärts und habe Angst, auf die Nase zu fallen und mir die Handgelenke zu brechen. Der aufrechte Gang ist eine Risikosportart. Lieber schleiche ich mich durchs Weltgeschehen.

Wir haben schlimme Ereignisse schon so oft erleben müssen. Immer wieder Krieg und Zeltlager und Waisenkinder und gescheiterte Friedenspläne und kein sauberes Trinkwasser und neue exotische Namen am Turnsäckli in der Turnhalle auf Ebene 1.

Und dann erschrecken wir doch jedes Mal, wenn schlimme Ereignisse eintreffen. Ereignisse, die enorme Auswirkungen haben auf Wirtschaftskreislauf und Stimmungshaushalt. Ereignisse, für die wir Hilfsgelder sammeln und Expertengremien einberufen und Konferenzen abhalten. Um akute Not zu lindern und mit dem sehnlichen Wunsch, unsere Zukunft sicherer und vorhersehbarer zu machen.

Was unsere kleine Co-Working-Welt zusammenhält, darüber denken wir nicht nach, solange alles glattläuft.

Dabei sollten wir erschrecken, wenn mal nichts passiert. Wenn die Sonne aufgeht, die Schiebetüren funktionieren, der Kaffee schmeckt und wir uns über nichts nerven müssen ausser über die alte Helvetia mit ihrer Hausordnung – aber sie sorgt dafür, dass die Büropflanzen nicht eingehen und die Fahrradeinstellhalle abgeschlossen wird.

Was unsere kleine Co-Working-Welt zusammenhält, darüber denken wir nicht nach, solange alles glattläuft. Dann kommt eine Pandemie oder ein Krieg, und plötzlich merken wir, dass wir den scheinbar sicheren Grund, über den wir Tag für Tag geschritten sind, nie eines Gedankens gewürdigt haben.

Deshalb werde ich an meinem Geburtstags-Apéro eine Lobeshymne anstimmen auf unseren Co-Working-Space. Auf die Seesicht und Bergsicht und unseren Adventure Trail zwischen Kopiergerät und Kaffeeautomat. Auf unseren verpackungsfreien Supermarkt im Souterrain. Aufs tägliche Wunder des meist reibungslos funktionierenden öffentlichen Liftverkehrs.

Ausserdem werde ich die Gelegenheit nutzen und die aktuellen Probleme und Herausforderungen im Co-Working-Space ansprechen:

  • Ist Geschlechtertrennung auf den Toiletten noch zeitgemäss?
  • Ist unser Logo mit dem weissen Kreuz auf rotem Grund noch zeitgemäss?
  • Ist unser Warteschleifen-Song «Trittst im Morgenrot daher» für Gleitzeitarbeitende noch zeitgemäss?
  • Windräder auf dem Dach statt Öl im Keller?
  • Die Hochpreisinsel Selecta-Automat, wie knacken?
  • Kommt die Maske zurück oder reicht Lüften?
  • Seniorinnenrabatt erst ab 65?
  • Personenfreizügigkeit auf andere Working-Spaces ausweiten, oder nicht?
  • Für und wider Klimaanlageziel 18 Grad?
  • Sind die Gummifrüchte in der Früchteschale noch Provokation oder schon Politik?
  • Was tun gegen Überforderungsstress? Glücklich bleiben dank Zeichnen, Fangis, Bälle werfen, Plüschtiere werfen, Trottinettlen, Rittigampfen, Trampolinen, meditativer Hintergrundmusik und Handy-Störsender.

Insbesondere möchte ich auf folgende Fragen eingehen:

  • Wieso Mitsprache und wie kann sie mein Leben bereichern?
  • Was ist ein Leader, und warum brauche ich keinen?
  • Was ist ein Co-Working-Hero, und warum sollte ich einer werden wollen?
  • Und ganz persönlich: Bemühe ich mich genug, als tragende Säule der Gemeinschaft und nicht als Plage wahrgenommen zu werden?

Weiter werde ich wieder einmal an die lokalen Gepflogenheiten erinnern: Wie geht korrektes Palmengiessen, Mülltrennung neu mit Farbsäcken, kein Lärm auf dem Vorplatz ab 22 Uhr, Grussgrenze Bushaltestelle. «Bitte Hände desinfizieren.» Schon klar. Wenn ich jemanden dazu bringen möchte, etwas zu tun, müsste ich ihm davon abraten.

Bitte kein Feuerwerk. Bitte keine Umzüge, Verkleidungen, Überraschungen.

Also denn: Heute ab 16:00 Uhr Partyalarm auf allen Ebenen – Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene. Für Getränke und Grissini ist gesorgt. Wer Gebackenes, Fingerfood, Speckdatteln, Käseplatten, Gemüsechips, Enzianbitter oder veganen Lachs beisteuern will, darf das gern tun. Geschenke sind willkommen, man darf aber auch einfach etwas in die Kafi-Kasse legen.

Ich werde mir erlauben, meine kleine Rede in den aktuellen Landessprachen zu halten. Also auf Französisch, Italienisch, Rätoromanisch, Deutsch, Albanisch, Arabisch und Ukrainisch. Bitte kein Feuerwerk. Bitte keine Umzüge, Verkleidungen, Überraschungen. Bitte keine anonymen Zettel mit dem Inhalt: «Würden Sie bitte damit aufhören, überall Ihre Zettel drauf zu kleben?»

Ich weiss, unser Co-Working-Space könnte ein bisschen Aufbruchsstimmung vertragen. Wie werde ich von der alten Helvetia im Backoffice, die sich um die Einhaltung der Hausordnung kümmert, zu einer Pionierin, die zu neuen Ufern aufbricht? Um Mitsprache wird gebeten.

Eure Helvetia

PS: Neues Logo, ein Vorschlag: Weisses Kreuz auf Regenbogengrund.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 29.07.2022, 17:20 Uhr

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