«Wir sind frei!» Dieser Ruf hallt vor genau 100 Jahren durch Osteuropa.
Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs – Grossbritannien, Frankreich und die USA – haben in Paris im «Versailler Vertrag» und in vier weiteren Verträgen die Nachkriegsordnung festgelegt. Die alleinige Kriegsschuld wurde Deutschland zugesprochen.
Die neue Ordnung enthält einen Gürtel von neun neuen Nationen: Er reicht von den baltischen Staaten über Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn bis nach Jugoslawien.
Die Zeit der Vielvölkerstaaten ist vorbei
Die neuen Länder entstehen auf ehemals russischem Territorium oder in Gebieten, die vormals zu den Kriegsverlierern Österreich-Ungarn und Deutschland gehört haben.
Die Staatschefs der Siegermächte, allen voran der US-Präsident Woodrow Wilson, lassen sich vom damals populären Slogan des «Selbstbestimmungsrechts der Völker» leiten.
Die Landesgrenzen sollen so gezogen werden, dass die neuen Staaten ethnisch möglichst homogen sind. Die Zeit der Vielvölkerstaaten wie Österreich-Ungarn, wo tschechische, slowakische, slowenische, ukrainische, kroatische und bosnische Minderheiten nach Autonomie strebten, ist abgelaufen.
Selbstbestimmung – in der Praxis kompliziert
In der Umsetzung erweist sich das Selbstbestimmungsrecht indessen als kompliziert: Ethnisch homogene Staaten zu bilden, scheitert nur schon daran, dass sich die Bevölkerung über die Jahrhunderte stark durchmischt hat.
Hinzu kommt, dass Grossbritannien und Frankreich aufgrund von Zusagen während des Kriegs bei der Ziehung der neuen Grenzen teilweise die Hände gebunden sind: So hat sich etwa Rumänien nur durch territoriale Versprechungen im ungarischen Siebenbürgen zum Kriegseintritt gegen die Mittelmächte bewegen lassen.
Schliesslich lassen es die Fachleute, welche die Siegermächte in Paris beraten, immer wieder an Sachkenntnis mangeln. So kommt es, dass im «Frühling der Nationen» von 1919 das Selbstbestimmungsrecht nur selektiv umgesetzt wird.
Der Völkerbund soll’s richten
Die Siegermächte sind sich der Unvollkommenheit ihrer Nachkriegsordnung durchaus bewusst. Sie verfügen für die neuen Staaten zukunftsweisende Gesetze, welche die vielen Minderheiten schützen sollen.
Zudem ruhen die Hoffnungen auf dem neu geschaffenen Völkerbund in Genf: Er soll bei Konflikten schlichtend eingreifen. Der Erfolg ist mässig.
Neue Konflikte
Tatsächlich beginnen nach 1919 neue Konflikte zu gären. So lehnen etwa viele Sudetendeutsche die Zugehörigkeit zur neu gegründeten Tschechoslowakei ab.
Die propagandistisch aufgebauschte vermeintliche Unterdrückung der deutschsprachigen Minderheit diente Hitler 1938 als probater Vorwand, um 1938 im Nachbarland einzumarschieren.
Langfristig als nicht tragfähig erweist sich Jugoslawien. Es zerfällt in den 1990er-Jahren nach einem blutigen Bürgerkrieg und grauenhaften ethnischen Säuberungen in Teilstaaten.
Lange Schatten
In Ungarn wiederum lassen Rechtskonservative wie Staatschef Viktor Orbán noch heute kaum eine Gelegenheit aus, an die einstigen Gebietsverluste an Rumänien und die Tschechoslowakei zu erinnern. Dadurch begibt er sein Land in eine Märtyrerrolle – diese eignet sich trefflich zur innenpolitischen Propaganda.
Als man 1919 in Paris von einem Frühling der Nationen träumt, folgt man der noblen Idee der Selbstbestimmung. Die Hoffnung, dadurch die komplexen ethnischen Konflikte aus der Welt zu schaffen, erweist sich in der Realität verschiedentlich als Illusion.