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Ein junger Mann mit wildem Lockenkopf steht am Meer.
Legende: Lange Haare, grosse Ideale: «1968 war eine Zeit der Hoffnung», sagt Benedikt Weibel. Privat

1968 im Rückblick Benedikt Weibel: «1968 war eine Revolution über das Leben»

1968 werde falsch bewertet, sagt Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel. Das Politische sei erst später hinzugekommen.

Lesedauer: 11 Minuten

Ich treffe Benedikt Weibel in der Nähe von Bern. Ein modernes Bürohaus, 6. Stock, Fenster von der Decke bis zum Boden. Der Blick kann schweifen – bis zu den Bergen, der Himmel in grenzenlosem Azur an diesem Morgen.

Benedikt Weibel ist Bergführer. Aber die Meisten kennen ihn als ehemaligen Chef der SBB. Er galt vielen als «der rote Boss», weil er aus seiner Sympathie für die 68er-Bewegung nie einen Hehl gemacht hat.

Benedikt Weibel

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Ein älterer Herr mit weissen Haaren.
Legende: NZZ Libro

Benedikt Weibel studierte Betriebswissenschaften an der Universität Bern und war dort als Assistent tätig. Von 1993 bis 2006 war er Vorsitzender der Geschäftsleitung der SBB. Heute ist er Professor an der Universität Bern, Publizist, Präsident und Mitglied verschiedener Verwaltungsräte. Ausserdem ist Weibel begeisterter Hobbysportler und diplomierter Bergführer.

SRF: Wie haben Sie 1968 persönlich erlebt?

Benedikt Weibel: 1968 war der Schlusspunkt und Höhepunkt einer Epoche. Diese hat 1960 begonnen. In einer ersten Phase war es die Gegenkultur, eine Kulturrevolution, die mit den Beatles angefangen hat.

Man hat alles gelesen, aus allen Bereichen – Erziehung, Psychologie, Philosophie, Literatur, klassische und politische Literatur. Es war die Phase der Bewusstseinswerdung.

Die Beatles selbst haben in einem Interview gesagt: «Vor uns war die Welt schwarz-weiss, mit uns ist sie bunt geworden.» Sie waren Trendsetter. Dann sind sie ihrem langhaarigen Fotografen nach Paris gefolgt.

Das war ironischerweise die erste Rebellion: die langen Haare bei den Männern. Im Nachhinein ist das wirklich eigenartig (lacht). Das war genau das Lebensgefühl, wie Polo Hofer es in « D’Rosmarie und i » so wunderbar beschrieben hat.

Mit der Reise der Beatles nach Indien kam das Thema transzendentale Meditation – und gleich danach die Hesse-Lektüre: «Demian», «Siddharta». Die ganz Mutigen haben noch das «Glasperlenspiel» gelesen.

Überhaupt: Man hat alles gelesen, aus allen Bereichen – Erziehung, Psychologie, Philosophie, Literatur, klassische und zunehmend auch politische Literatur. Es war die Phase der Bewusstseinswerdung. Und dann kam dieses 68.

Ein junger Mann mit wildem Lockenkopf lächelt.
Legende: Die langen Haare symbolisieren den Bruch mit der Generation der Eltern: Benedikt Weibel in jungen Jahren. Privat

Wodurch ist dieses 68 zur Chiffre geworden?

Ausschlaggebend war der Mai 1968 in Paris. Der kam völlig «out of the blue». Das Klima in Paris war nicht so aufgeheizt wie in Deutschland nach dem Mord an Benno Ohnesorg. In Paris war es eigentlich ruhig. Aber dann beging die Regierung einen Tabubruch, indem sie die Polizei in die Sorbonne schickte. In «no time» waren dann die Barrikaden auf der Strasse.

Um Mitternacht wurden die Stühle auf die Tische gestellt. Da haben wir gesagt: Jetzt brauchen wir etwas für uns.

Es war im ersten Moment keine politische Revolution, sondern eine Revolution über das Leben. Ich glaube, dass 68 da völlig falsch bewertet wird: Am Anfang war es die Rebellion gegen die statusgebundenen Autoritäten, die aus den 1950ern kamen. Die Politik kam erst nachher.

Gab es damals einen Tag, an dem Sie dachten: Jetzt bin ich dabei?

Nein, das war eine schleichende Entwicklung. Ich lebte in Solothurn. Alle meine Kollegen waren dort. Wir waren frustriert, diskutierten in den Restaurants. Um Mitternacht wurden die Stühle auf die Tische gestellt. Da haben wir gesagt: Jetzt brauchen wir etwas für uns.

Einer hatte Verwandte mit einem Stöckli. Das «Hüsi», haben wir nachher gesagt. Das war ein entscheidender Moment. Um Mitternacht sind wir in die Käfer und 2CVs gestiegen, sind dort raus gefahren und haben die gewaltigsten Feste gefeiert. Am nächsten Morgen haben wir weiter diskutiert in einem schönen Obstgarten.

Weibel strahlt noch mehr, als er es ohnehin tut. Beim Erzählen wird er jung. Er hat die Gelassenheit von jemandem, der ein Leben gelebt hat, in dem er vieles umsetzen konnte, das ihm vorschwebte. Da ist keine Bitterkeit, sondern noch immer grösste Neugier.

Wie gross war der Clash zwischen dem «alten System» und dem, was mit 68 kam?

Der Clash war unglaublich gross: Es gab die Körperstrafen zu Hause und es gab sie in der Schule. Im Nachhinein, muss ich sagen, habe ich viel mehr Verständnis für die Generation meiner Eltern.

Mit 1968 kam ein unglaublicher Bruch – ein Bruch mit den permanenten Konflikten in der Enge des Elternhauses.

Es hat nie mehr einen solchen Generationenbruch gegeben. Die Elterngeneration hatte weltweit noch den Krieg erlebt – mit Entbehrungen und dem wirtschaftlichen Aufschwung danach, auch ein Kennzeichen dieser Zeit. Diese Generation hat sich sehr materiell orientiert: der Fernseher, die Waschmaschine, der Kühlschrank, das Auto, das Einfamilienhaus.

Eine Familie sitzt um ein Sofatischchen, auf dem Champagner-Gläser stehen.
Legende: Wohlstand und Enge: Benedikt Weibel (Mitte) im Kreis seiner Familie, um 1963. Privat

Mit 1968 kam ein unglaublicher Bruch mit den permanenten Konflikten in der Enge des Elternhauses. Dieser Enge stand die Suche nach irgendetwas, diesem Lebensgefühl von Aufbruch, gegenüber. Das war für uns bestimmend.

Welche Pläne haben Sie damals gemacht? Wollten Sie auch nach Indien?

Nein. Mein einziges Berufsziel, das ich je angestrebt habe, war es, Bergführer zu werden. Die Felsen im Jura waren meine Gegenwelt. Ich habe später politisiert, bin in die SP eingetreten, aber Parteiversammlungen waren nicht meine Welt.

Ich hatte das Riesenglück, dass ich Anfang der 1970er-Jahre am betriebswirtschaftlichen Institut der Uni Bern für sieben Jahre eine Assistentenstelle gefunden habe. Wir hatten eine Assistentenschaft mit einer intellektuellen Konkurrenz, wie ich es nie mehr erlebt habe.

Und wir hatten Professor Walter Müller. Ihm bin ich ewig dankbar. Er hat uns an der sehr langen Leine laufen lassen. Der Höhepunkt war, als wir Ludwig Wittgensteins «Tractatus logico-philosophicus» gelesen haben. Diese sieben Jahre haben mich geprägt.

Weibel eilt durch die Ereignisse der 1970er-Jahre. In Geschichte kennt er sich aus wie ein Bergführer im Gelände. Ihn interessieren die «Schwellenzeiten» – sein Leitmotiv.

Als Abgrund dieser Jahre definiert er den linken Terrorismus der RAF und der Roten Brigaden. Als positive Erbschaft von 68 sieht er den Feminismus. Und er erwähnt den Bericht des Club of Rome «Von den Grenzen des Wachstums». Dieser sorgte 1972 für Furore und setzte die Ökologiebewegung massgeblich mit in Gang.

Privat waren diese Jahre von Veränderung gekennzeichnet: 1975 waren die sieben Jahre vorbei, die er als Assistent an einer Uni angestellt sein durfte. Weibels Frau war schwanger, ein neuer Beruf musste her, er verschickte über 30 Bewerbungen. Es kamen nur Absagen. Ausser: von den SBB.

Die nächste Zeit, die ihn von der kollektiven Zuversicht her an 68 erinnert, ist das Jahr 1989. Auch so eine Schwellenzeit: ein «Überraschungsmoment der Geschichte», in dem Hoffnung auf eine neue, bessere Zeit in der Luft lag und ein altes System aus den Fugen geriet.

Junge Hippies sitzen auf der Strasse mit Schildern in der Hand.
Legende: Bern, Juni 1968: Jugendliche demonstrieren gegen den Vietnamkrieg und die Berichterstattung der Schweizer Medien über diesen Konflikt. Keystone

Was wäre – von heute aus gesehen – ohne 68 nicht denkbar?

Sicherlich das andere Verhältnis zu Autoritäten. Die sogenannte «Machtdistanz». Diese ist viel kleiner geworden.

Etwas anderes habe ich in der Biografie von Steve Jobs gelesen: Das Silicon Valley habe nur dort entstehen können, wo 1967 der «Summer of Love» war. Aus diesem Überschwang, dieser Fantasie, sei das Silicon Valley entstanden. So wie in Paris der vielleicht schönste Satz über 68 an einer Wand stand: Die Fantasie an die Macht.

Ich muss schmunzeln, wenn die Rolling Stones oder Bob Dylan ein Konzert geben. Dann schreibt die NZZ eine ganze Seite voll.

Gerade habe ich gelesen, dass Gurus wie Mark Zuckerberg alle auf Montessori-Schulen waren. Das ist fast eine ironische Rückkehr zu dem, was wir damals gedacht haben: Antiautoritäre Erziehung war ein unglaubliches Thema.

Was ist im Alltag von 68 geblieben?

Vieles. Ich war vor kurzem in einem Dorf in SVP-Stammland und ging morgens in einen kleinen Laden. Da tönte laut «Under My Thumb» der Rolling Stones aus dem Lautsprecher. Die Durchdringung dieses Jahrzehnts findet heute noch statt.

Ich muss auch schmunzeln, wenn die Rolling Stones oder Bob Dylan ein Konzert geben. Dann schreibt die NZZ eine ganze Seite voll. Man merkt, wie diese Gegenkultur übernommen wurde und zu einer gewaltigen Geldmaschine geworden ist. Wenn so eine Ikone stirbt, dann ist das fast wie ein Staatsbegräbnis.

Oder man verleiht ihr einen Nobelpreis.

Ja, danke für das Stichwort. Ich fand’s richtig, dass Bob Dylan ihn bekommen hat. Wie er damit umgegangen ist – typisch Dylan.

Weibel schaut wieder in die Ferne, auf die Berge, ins Azur, dann:

Oder, was auch von 1968 geblieben ist: «Breaking the Rules». Das war vor ein paar Jahren das Motto des WEF. «Breaking the Rules», das hat Rudi Dutschke gesagt!

Wieder Pause. Dann lacht er schallend.

Wenn irgendwo eine weithin sichtbare Erbschaft von 1968 existiert, dann ist es die Reithalle. Ausgerechnet im provinziellen Bern – und eben nicht in Zürich!

Reithalle in Bern
Legende: Ein Erbe der 68er, das bis heute überlebt hat: das Kulturzentrum Reithalle in Bern. Keystone

Ist 1968 zur modischen Erscheinung geworden?

Wenn Dieter Zetsche, der Vorstandsvorsitzende bei Daimler, auf dem Podium steht mit kurzem Sakko, offenem Hemd, Chinos und Turnschuhen – dann sieht er aus wie ein Fussballtrainer. Das ist heute Mode. Bloss nicht die alte Macht mit Krawatte.

Erinnern Sie sich, 1988, Joschka Fischer bei der Vereidigung als Minister in Turnschuhen? Was das für einen Wirbel ausgelöst hat. Heute ist die Gegenkultur von damals längst Mainstream.

Ich wurde geprägt durch die Leute, die draussen die harte Arbeit machten – und habe eine Abneigung gegen alles Höfische.

1968 habe das Verhältnis zur Macht verändert, sagten Sie. Aber: Wie gehen Linke selber mit Macht um?

Das ist ganz einfach: Entweder Sie tragen Verantwortung oder nicht. Wenn Sie keine Verantwortung tragen, können Sie unendlich viel über Macht sprechen. Wenn Sie aber Verantwortung tragen, dann ist diese persönlich. Wie man damit umgeht, ist sehr unterschiedlich.

Buchhinweis

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Benedikt Weibel: «Das Jahr der Träume: 1968 und die Welt von heute». NZZ Libro, 2017.

Ich selbst wurde geprägt durch die Leute, die draussen die harte Arbeit machten. Ich habe die Nähe zu den Eisenbahnern gesucht und habe eine Abneigung gegen alles Höfische.

Drei Männer und eine Frau mit orangefarbenen Helmen stehen an Schalthebeln.
Legende: «Man ist nicht Kapitän eines Schiffs, sondern eines Flottenverbands»: Benedikt Weibel (Mitte) als SBB-Präsident. Keystone

Davon habe ich mich immer abgegrenzt. Ich war jedes Jahr an 17 Standorten, bin bewusst immer allein dorthin gegangen und habe mit den Eisenbahnern diskutiert, stundenlang und intensiv. Ich habe ihnen immer gesagt: «Sie sind für das Heute verantwortlich, ich für das Morgen. Und ich weiss, dass ich von Ihnen abhängig bin.»

Man hat mir vorgeworfen, dass ich den Abteilungen der SBB zu viel Auslauf lasse. Für mich war das ein Kompliment.

Da hat mich 68 geprägt, auch bei der Haltung zur Dezentralisierung, die heute zwingend ist. «Man ist nicht Kapitän eines Schiffs, sondern eines Flottenverbandes», habe ich gelesen. Das hat man mir vorgeworfen: Ich hätte den Divisionen, den Abteilungen der SBB, zu viel Auslauf gelassen. Für mich war das ein Kompliment.

Zwei Männer stehen in einem Tunnel, dahinter stehen Bahnarbeiter zu herum.
Legende: «Ich wurde geprägt durch die Leute, die draussen die harte Arbeit machten», sagt Benedikt Weibel (rechts). Keystone

Schauen wir von 1968 aus in die Zukunft. Brauchen wir wieder etwas Vergleichbares – eine grosse Vision wie damals?

Heute gibt es diese Sucht nach Visionen. Aber wenn ich mir die Geschichte anschaue: Was haben diese Visionen hervorgebracht? Die Oktoberrevolution, den Nationalsozialismus, die chinesische Kulturrevolution. Das kann es ja nicht sein.

1968 war eine Schwellenzeit der Hoffnung – auch wenn vieles irrational war und übertrieben. Heute herrscht ein Zeitalter der Sorge.

Wenn ich heute den Vergleich mit damals mache, dann war 1968 eine Schwellenzeit der Hoffnung – auch wenn vieles irrational war und übertrieben. Heute herrscht, milde ausdrückt, ein Zeitalter der Sorge. Stärker ausgedrückt: der Angst.

Ein älterer Herr gestikuliert mit seinen Händen vor einem offenen Fenster.
Legende: Hemdsärmlig im besten Sinn: Benedikt Weibel hat sich von allem Höfischen zeitlebens abgegrenzt. Keystone

Was braucht es denn, wenn es die grossen Visionen nicht sind?

Erstens müssen wir heute kämpfen, dass der freiheitlich demokratische Rechtsstaat erhalten bleibt. Dieser ist in Gefahr, weltweit, auch von innen her.

Das Zweite ist das Verhältnis von Wirtschaft und Staat. Wir haben heute Strömungen, die sind wirtschaftsfeindlich, vielleicht sogar systemfeindlich. Andere Strömungen sind staatsfeindlich. Ich halte beides für gefährlich.

Eine starke Wirtschaft braucht einen starken Staat. Eine ungezügelte Wirtschaft führt in die Selbstzerstörung.

Ich glaube, wir brauchen drittens eine starke Wirtschaft. Ich halte den Sozialstaat für die höchste Stufe der Zivilisation – dieser lässt sich aber nur mit einer starken Wirtschaft finanzieren. Eine starke Wirtschaft braucht einen starken Staat. Eine ungezügelte Wirtschaft führt in die Selbstzerstörung. Wenn sie nicht gesteuert wird, haben wir diesen Trend zum Monopol. Wenn selbst ein Zuckerberg nach Regulierung ruft, dann ist es dringend.

1968 gab es eine antikapitalistische Haltung: Firmenchefs wurden als Bonzen und die Reichen als Bourgeoisie bezeichnet. Die 68er standen dem Staat kritisch gegenüber. So begreift man, wie weit der Weg ist, den Weibel gegangen ist, wenn er heute für eine starke Wirtschaft und einen starken Staat plädiert. Vor allem aber plädiert er für eine starke Demokratie – und warnt vor der Machtdistanz, die sich in manchen Staaten wieder vergrössert. So ist folgerichtig, wie er die letzte Frage beantwortet.

Wo sehen Sie heute weitere Gefahren?

Angst macht mir der Caesarismus. Wir haben Putin, Nordkorea, den Orban, Erdogan, wir haben Trump und Macron. Das sind Zeichen. Da geht es auch um das Erbe der Aufklärung.

Wir müssen dafür sorgen, dass es in der Schweiz nicht zu einem Riss kommt.

Etwas, das mir ausserdem Sorge macht, ist der Riss, der heute durch Länder geht. In Amerika war er immer da, aber er hat sich vertieft. Man weiss nicht, wie das weitergeht. Noch grössere Sorgen machen mir die Entwicklungen in Deutschland.

Diese Gespaltenheit gibt es in der Schweiz nicht. Das hängt auch damit zusammen, dass unsere SVP in keiner Weise eine AfD ist. Aber wir müssen dafür sorgen, dass es in der Schweiz nicht zu diesem Riss kommt.

Benedikt Weibel begleitet mich zum Lift, noch ein Wittgenstein-Zitat für unterwegs. Von Bern aus fahre ich zurück – mit der SBB. Links zieht die Reithalle vorbei.

Das Gespräch führte Franz Kasperski.

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