Vor 250 Jahren wurde der grosse Philosoph Hegel geboren. Heute ist er aktueller denn je, meint Hegel-Kenner Sebastian Ostritsch.
Ein Fan von Twitter wäre Hegel aber nicht – auch nicht von der EU, von Identitätspolitik und vom Individualismus. Warum, erklärt Sebastian Ostritsch hier.
SRF: Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde vor 250 geboren. Können wir heute noch von dem grossen Philosophen lernen?
Sebastian Ostritsch: Aber sicher. Die gegenwärtige Diskussionskultur ist stark polarisierend. Oft schliessen wir Andersdenkende gar aus der Diskussion aus. Dieses Lagerdenken prägt die Politik ebenso wie die Sozialen Medien.
Von Hegel können wir lernen, die Beschränktheit der eigenen Position zu reflektieren, die Gegenseite ernst zu nehmen und uns produktiv mit ihr auseinanderzusetzen. Hegel plädiert für ein Denken ohne Scheuklappen, für einen produktiven Umgang mit Gegensätzen, ohne faule Kompromisse.
Ist das schon Dialektik?
In gewisser Weise schon. Nach Hegel sind Gedanken keine feststehenden Einheiten, sondern Teil eines Prozesses. Wenn man einen Gedanken konsequent zu Ende denkt, so führt das nach Hegel über diesen Gedanken hinaus, zu dessen Gegenteil.
Doch auch dieser gegenteilige Gedanke gerät beim Nachdenken in Bewegung und führt über sich selbst hinaus. So baut sich ein ganzes Netz von Gedanken auf. Das Denken macht Gedanken flüssig. Das ist Dialektik.
Für Hegel bedeutet Freiheit immer auch Selbsteinschränkung.
Hegel war stark von der französischen Aufklärung geprägt. Die Freiheit steht im Zentrum seines Denkens. Wie frei sind wir heute, nach Hegel?
Für Hegel sind wir Menschen mehr als blosse Einzelwesen, die sich zum eigenen Vorteil zusammentun. Er lehnt den Individualismus ab. Für Hegel kann das Individuum nur dann frei und selbstbestimmt leben, wenn es Teil einer Gemeinschaft ist. Ein freies Ich gibt es nur als Teil eines freien Wir.
Sind wir als Einzelne nicht viel ungebundener, zu weniger Kompromissen gezwungen, also freier?
Wer Single ist, könnte meinen, eine Beziehung würde die eigene Freiheit einschränken. Hegel würde aber sagen: Was in einer Beziehung eingeschränkt wird, ist nicht Freiheit, sondern blosse Willkür – ein Leben nach dem individuellen Lustprinzip.
Für Hegel bedeutet Freiheit immer auch Selbsteinschränkung. Erst wenn ich mich selbstbestimmt an eine andere Person, an eine Gemeinschaft oder an ein Projekt binde, fühle ich mich frei und aufgehoben. Erst durch Selbsteinschränkung gewinne ich mein wahres, freies Selbst.
Die grossen Probleme der Gegenwart sind globaler Natur: Pandemien, Klimawandel, Migration, Digitalisierung. Was können wir in Sachen Globalisierung von Hegel lernen?
Seit einigen Jahren erleben wir eine Spannung zwischen Globalisierung und Nationalstaat. Dieser Widerspruch ist ungelöst und produziert viele Konflikte. Hegel kann uns hier helfen, da sein Denken ebenso universalistische wie nationalistische Züge trägt.
Er plädiert in der Tradition der Aufklärungsphilosophie für universale Werte, weiss aber auch, wie wichtig historische und kulturelle Identitäten für uns Menschen sind. Wir sind immer Teil einer Geschichte, einer Kultur, einer Gemeinschaft.
Nur im Rahmen von historisch gewachsenen, identitätsstiftenden Kulturen können universelle Werte Wirklichkeit werden und mehr sein als blosse Wunschvorstellungen.
Wir sollten unsere Identität nicht von zufälligen, äusseren Merkmalen abhängig machen.
Wäre Hegel ein Befürworter der Identitätspolitik?
Er sähe die zunehmende Bedeutung von naturgegebenen Merkmalen wie Geschlecht oder Hautfarbe kritisch. Hegel argumentiert, wir sollten unsere Identität nicht von zufälligen, äusseren Merkmalen abhängig machen, da diese nicht Ausdruck unserer Freiheit sind.
Meine Rolle als Vater, als Vereinsmitglied oder als Staatsbürger ist dagegen Ausdruck meiner Selbstbestimmung. Das sind soziale Rollen, in denen Freiheit steckt und die ich als freies Wesen gestalten kann. Meine Rolle als Vater ist identitätsstiftend für mich als freies Wesen. Von meinem Geschlecht oder meiner Hautfarbe kann ich das nicht ohne Weiteres behaupten.
Das Gespräch führte Yves Bossart.