An welchem Tag im April 1992 die Belagerung ihren Anfang nahm, ist umstritten. Anzeichen für eine Verschlechterung der Lage hatte es gegeben, seit sich Slowenien 1991 für unabhängig erklärte und weitere ehemalige Teilrepubliken Jugoslawiens dem Beispiel folgten. So auch Bosnien-Herzegowina mit seiner Hauptstadt Sarajevo.
Der Balkan 1990 und heute
Genauso wie Jugoslawien als Vielvölkerstaat galt, war auch Bosnien-Herzegowina bereits ethnisch und religiös gemischt, als es noch zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehörte.
Seit Jahrhunderten lebten in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo orthodoxe Serben, katholische Kroatinnen und bosnische Muslime Seite an Seite. Die Stadt hatte deshalb den Ruf einer Brücke zwischen Orient und Okzident.
Wie die Belagerung Sarajevos begann
Im März 1992 stimmten die Bosnierinnen und Bosnier über ihre Unabhängigkeit ab. Doch die bosnischen Serben boykottierten das Referendum und begannen zusammen mit Truppen der jugoslawischen Volksarmee, Sarajevo einzukesseln.
Der Bosnienkrieg von 1992-1995
«Tausende von Menschen sind auf die Strasse gegangen, um gegen den angekündigten Krieg zu protestieren», erinnert sich der Journalist Enver Robelli. Doch genützt habe es wenig. Die Belagerung von Sarajevo nahm ihren Lauf und sollte 1425 Tage dauern.
Bei Bildern aus Mariupol denke ich mir: Das sieht aus wie damals bei uns.
Die Folgen: 11.000 Tote, mehrere Zehntausend Verletzte, Vertriebene, Traumatisierte und eine praktisch unbewohnbare Stadt. Den Vergleich mit der Ukraine mache man automatisch, meint die Journalistin und Filmemacherin Melina Borcak.
«Bei manchen Bildern aus Kiew oder Mariupol denke ich mir: Das sieht genauso aus wie damals bei uns», so Borcak. Dabei seien die Gebäude eigentlich das kleinste Problem. Vielmehr gehe es um die Menschen, die dort ihr Leben verlieren.
Minenkunde als Schulfach
Die Journalistin hat den Bosnienkrieg als kleines Mädchen in Sarajevo erlebt. Heute pendelt sie zwischen Deutschland und Bosnien. «Wir hatten als Schulfach Landminen-Sicherheit, weil überall Minen gelegt wurden, auch auf unserem Schulhof», erinnert sie sich.
Laufe sie heute über Gras, habe sie immer noch ein komisches Gefühl. Schliesslich habe sie als Kind gelernt, nur auf Beton zu gehen und ja nichts hochzuheben.
Ort der Toleranz
30 Jahre später macht Sarajevo einen friedlichen Eindruck. Die Stadt sei nach wie vor ein Ort der Toleranz, sagt Enver Robelli. Allerdings sei sie wesentlich homogener als früher: «Heute ist Sarajevo zu über 90 Prozent muslimisch. Insofern hat die ethnische Entflechtung, die das Ziel der Nationalisten war, funktioniert.» Die Menschen würden allerdings noch immer gerne Witze über sich selbst reissen, das sei ein schöner Wesenszug.
Und noch immer stehen Kirchtürme neben Minaretten. «Wir haben Weihnachtsmärkte vor Moscheen, das kann sich in Westeuropa keiner vorstellen», erzählt Borcak.
In Sarajevo zu leben, sei allerdings nicht einfach: «Wenn man wie meine beste Schulfreundin jeden Tag jene sieht, die für den Tod der Familienmitglieder verantwortlich sind, bleibt einem nur der Glaube.»
Instrumentalisierte Religion
Glaube und Religion würden von nationalistischen Parteien instrumentalisiert, sagt Robelli, doch es gebe Oasen der Toleranz. In der Altstadt von Sarajevo hätten die mehrheitlich muslimischen Bürgerinnen und Bürger einen Serben als Bürgermeister gewählt. Zudem gebe es Kulturinstitutionen wie das Kriegstheater. Dort würden bosnisch-muslimische, kroatische und serbische Schauspielerinnen und Schauspieler zusammenarbeiten.
Auch wenn der Krieg seit mehr als einem Vierteljahrhundert zu Ende ist, sind noch nicht sämtliche Wunden verheilt. Die Seele der Stadt aber konnte der Krieg nicht zerstören.