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30 Jahre Öffnung Stasi-Archive «Die Stasi hinterliess 178 Kilometer an Akten»

Die Staatssicherheit der DDR, kurz Stasi, überwachte Millionen von Menschen. Erst mit der Öffnung der Stasi-Archive vor 30 Jahren erfuhren Betroffene, welche Informationen über sie gesammelt wurden. Unter ihnen war auch der Politologe Enrico Seewald. Er wurde als Teenager aufgrund von Flugblattaktionen bespitzelt und schliesslich festgenommen.

Enrico Seewald

Politologe

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Enrico Seewald ist in der Region von Chemnitz aufgewachsen. 1981 wurde er als 18-Jähriger wegen verschiedener Flugblattaktionen gegen das SED-Regime der DDR inhaftiert und nach zwei Jahren von der Bundesregierung freigekauft.

Der Politologe forscht heute an der Freien Universität Berlin zu Diplomatie und untersucht unter anderem in einem Projekt die Todesfälle von DDR-Bürgern bei Fluchtversuchen über Ostblockstaaten.

SRF: Was stand in den Akten, welche die Stasi über Sie geführt hatte?

Enrico Seewald: Die Staatssicherheit hat bei Leuten, die sozusagen noch unbeschriebene Blätter waren, zuerst einmal das Umfeld ausgeleuchtet.

Ich war erst 18 Jahre alt, als ich durch gewisse Aktionen ins Visier kam. Meine Eltern waren vorher schon im Visier der Staatssicherheit. Obwohl das einfache Leute aus einem kleinen Dorf im Erzgebirge waren, wurden sie schon seit 1966 bespitzelt.

Was die Staatssicherheit bei ihnen unbekannten Leuten machte, war, die Nachbarn zu befragen, Arbeitskollegen und Bekannte, um sich ein Bild zu machen von der entsprechenden Person, die ausgeforscht werden sollte.

Die Stasi hat wegen Flugblattaktionen eine Akte über Sie geführt. Dabei war sie nicht einmal sicher, dass Sie wirklich dahinterstecken. Was stand denn auf diesen Flugblättern?

Ein Flugblatt richtete sich beispielsweise gegen den Wehrkundeunterricht. Wir waren der erste Jahrgang in der Schule, der diesen Unterricht hatte.

Die Bezirksverwaltung schrieb, wir seien schlimme Gegner, Feinde des Regimes.
Autor:

Da stand sinngemäss drin: «Wir haben hier die Erziehung zum Militarismus und das soll nicht sein. Wendet euch dagegen und bringt euren Protest zum Ausdruck, damit ihr nicht die Gefallenen des Dritten Weltkriegs sein werdet.» Das ist ein bisschen naiv formuliert, aber das machten junge Leute so.

Zwei 18-Jährige wehren sich gegen den Wehrkundeunterricht und deswegen hat die Staatssicherheit ihren ganzen Apparat hochgefahren?

Als sie uns nach über einem Jahr immer noch nicht auf die Spur gekommen waren, wurde der Leiter der Bezirksverwaltung doch sehr zornig und hat in einer Stellungnahme über uns geschrieben, wir wären ganz schlimme Gegner, Feinde des Regimes und die ganze Kraft der Bezirksverwaltung müsse eingesetzt werden, um diese Leute schnellstmöglich zu liquidieren.

Am Ende wurden Sie doch geschnappt. Sie waren keine 20 Jahre alt und mussten für zwei Jahre ins Gefängnis. Dann wurden sie freigekauft, konnten nach Westdeutschland ausreisen und zehn Jahre später, nach dem Ende der DDR, konnte Sie Ihre Akten zum ersten Mal einsehen. Was hat Ihnen das für neue Erkenntnisse gebracht?

Der Kampf um die Akten war eine riesige Aktion. Die Staatssicherheit hat hektisch versucht, zum Schluss noch Akten zu vernichten, weil sie auf den Umsturz nicht vorbereitet war.

Trotzdem ist die Hinterlassenschaft mit Aktenordnern, die aneinandergereiht 178 Kilometer lang sind, eine riesige Menge. Der Geheimdienst der DDR wollte alles wissen. Das war zutiefst ineffektiv. Bei unserem Fall waren 36 Offiziere involviert, obwohl wir nur 400 Flugblätter verteilt haben. Das ist eine völlig absurde Dimension.

Sie arbeiten heute als Forscher mit diesen Stasi-Akten. Was ist Ihre Bilanz, 30 Jahre nach der Öffnung der Archive?

Man muss vor allen Dingen den Leuten dankbar sein, die diese Akten vor der Vernichtung schützten. Das waren am Anfang Bürgerrechtler, welche die Stasi-Objekte versiegelten oder besetzten, um die Akten zu retten. Das war eine grosse Heldentat in dieser deutschen Revolution.

Das Gespräch führte Susanne Schmugge.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 31.12.2021, 17:20 Uhr ; 

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