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Gesellschaft & Religion 30 Jahre Privatfernsehen: Einschalten, um abzuschalten?

Im Januar 1984 ging der erste kommerzielle Privatanbieter auf Sendung. Mit einem quicklebendigen Programm brachten SAT.1 und RTLplus frischen Fernsehwind in die deutschsprachige Medienlandschaft. Konkurrenz belebt das Geschäft, lautet das Motto noch heute.

Im Jahr 1984 gewinnt Ronald Reagan die Präsidentschaftswahlen in den USA, in der Schweiz wird erstmals eine Frau Bundesrätin, in Deutschland gehören Bananenrepublik und Tempolimit zu den Worten des Jahres. Es gibt viel zu berichten für die deutschsprachigen Medien. Die Zeit verlangt nach kritischer Analyse – da geht die Fernsehwundertüte auf.

1984: Der Sender RTL plus wird entbunden.
Legende: 1984: Der Sender RTL plus wird entbunden. RTL

Am 1. Januar beginnt die «Programmgesellschaft für Kabel- und Satellitenrundfunk» zu senden. Die PKS, wie der neue Sender umständlich heisst, wird sich später in SAT.1 umbenennen. Mit einem Konzert von Georg Friedrich Händel beginnt das duale Fernsehzeitalter.

Neben den öffentlich-rechtlichen Programmen von ARD und ZDF starten mit SAT.1 und mit RTL plus die ersten kommerziellen Privatsender in Deutschland.

Vom Kellerkind zum Quotenführer

In einem kleinen Ludwigsburger Fernsehstudio werden die Bilder der schönen neuen Fernsehwelt produziert. Die Kulissen wackeln noch, Ansagerin Irene Joest trägt ein geliehenes Kleid, und nur wenige Hundert Zuschauer schalten ein. «Wir hatten drei Wochen vor Sendestart erst unsere Lizenz», erinnert sich Geschäftsführer Jürgen Doetz. «Ich hatte eine Truppe von knapp über 20 Leuten, von denen vom Fernsehen vielleicht die Hälfte eine Ahnung hatte.»

Niemand ahnt, wie tiefgreifend die Veränderungen tatsächlich sein würden. Denn das Privatfernsehen markiert einen Wendepunkt in der deutschsprachigen Mediengeschichte. Statt klassischer Musik sind auf der Mattscheibe schon bald Krawall, Seelen-Striptease und knapp bekleidete junge Mädchen zu sehen.

Die Entdeckung des Privaten

Es entstehen neue Sendeformate und Begriffe wie «zappen». Neue TV-Moderatoren sind auf dem Bildschirm zu sehen. Talk- und Casting-Shows, Big Brother Container und «Wer wird Millionär» verändern nachhaltig die Sehgewohnheit. Privatfernsehen, das war und ist die Entdeckung des Privaten.

Der Tabubruch ist beabsichtigt. Die Grenzen zwischen Zuschauer und TV-Möchtegern-Stars, zwischen Wirklichkeit und inszenierter Fernseh-Reality-Show, sie verwischen. Es entsteht das Zielgruppenfernsehen, das sich vor allem für die als konsumfreudig geltende Gruppe der 14- bis 49-Jährigen interessiert. Für die Kulturkritik ist das alles ein Gräuel.

Kohls Fernsehtraum

Der griechisch-deutsche Sänger Costa Cordalis mit Schlange in der Hand und Schutzbrille, beim Lösen einer Aufgabe in der Show.
Legende: 20 Jahre nach der Gründung: Der Sänger Costa Cordalis in der RTL-Show «Ich bin ein Star! – Holt mich hier raus». Keystone

In den Feuilletons warnen Autoren vor «Massenverdummung» und «Nullmedium» (Hans Magnus Enzensberger). Selbst der deutsche Bundesminister für Post und Telekommunikation, Christian Schwarz-Schilling, muss zugeben, dass «der Empfang der vielen Programme wie eine Narkose wirken kann».

Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl hatte damals den gesetzlichen Weg für die privaten Fernseh-Narkotika geebnet – in der Hoffnung, ein Gegengewicht zu der aus seiner Sicht eher SPD-freundlichen Berichterstattung bei ARD und ZDF zu schaffen.

Doch statt der erhofften konservativen Berichterstattung zeigen SAT.1 und RTL vor allem in den USA produzierte Serien. Die geistig-politische Wende durch die neuen kommerziellen Fernsehsender bleibt aus, dafür befriedigen sie vor allem den Massengeschmack.

Werbung makes the world go round

Neu ist auch die Werbung zwischen den Sendungen und zwischen den Spielfilmen. Werbung unterbricht nun jeden Film, was vor 1984 tabu war. Für die werbetreibende Wirtschaft dagegen entsteht mit dem Privatfernsehen ein neuer riesiger Markt.

Dabei entwickeln sich die Einnahmen der Privatsender zunächst nur schleppend und bleiben weit hinter denen von ARD und ZDF zurück. Das ändert sich erst, als RTL und SAT.1 mit Eigenproduktionen starten.

Tittenfernsehen

Erika Berger sitzt auf einem Sofa und hält einen Telefonhörer in der Hand.
Legende: Erika Berger in «Eine Chance für die Liebe». RTL

Unterhaltungstrash wie «Tutti Frutti» mit Striptease-Ansager Hugo Egon Balder erntet Rekord-Einschaltquoten. Ebenso wie «Eine Chance für die Liebe» mit Erika Berger als Telefon-Beraterin auf knallrotem Sofa in Sachen Sex. Danach flimmern Softpornos über die Mattscheibe. Solche Sendungen werden vor allem für RTL zum Markenzeichen. Kritiker sprechen spöttisch vom Latzhosenniveau und Unterschichtenfernsehen. RTL steht für Rammeln, Töten, Lallen. Ex-RTL-Chef Helmut Thoma entgegnet zum Vorwurf des Tittenfernsehens: «Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler!»

1991 überholt RTL erstmals im Umsatz die öffentlich-rechtliche Konkurrenz. Mit Zunahme der Antennenfrequenzen und Kabelplätze werden die Programme immer bekannter. Weitere Kanäle gehen in rascher Folge auf Sendung: Tele 5, DSF, ProSieben, Eurosport, Premiere, Kabel 1, n-tv, Viva. Mit den privaten Fernsehprogrammen wandelt sich auch der Journalismus: Man spricht nunmehr von Konsumenten, Einschaltquoten, Nachrichtenmarkt und Exklusivrechten. Das Medium wird zu einer Ware im Bazar des internationalen Dienstleistungsgewerbes.

Infotainment statt Bildungsauftrag

Der Publikumserfolg der kommerziellen Sender zwingt ARD und ZDF dazu, sich den Sendeformen anzupassen. Sie hätten RTL und SAT.1 imitiert, sagen Kritiker. Das Privatfernsehen habe Bewegung in den deutschen Fernsehmarkt gebracht, halten die Befürworter dagegen. Heute gibt es im deutschsprachigen Raum mehr frei empfangbare Programme als sonst wo in Europa. Aber lässt sich das auch von der Qualität der Sendungen sagen?

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